de fr it

Humanismus

Unter studia humanitatis wurden im italienischen 15. Jahrhundert unter Berufung auf die Antike und namentlich auf Cicero die fünf Fächer Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Moralphilosophie verstanden, als Voraussetzung für Weisheit und Beredsamkeit, die den vollwertigen Bürger – poeta et orator – auszeichneten. Sie wurden gelehrt durch den umanista (erstmals 1490 belegt) und unterschieden sich von den mittelalterlichen sieben artes liberales und von den eigentlichen Universitätsfächern (Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Medizin, Naturwissenschaften). Diese wurden jedoch von der humanistischen Methodik im 16. Jahrhundert, vom Studium der alten Sprachen in ursprünglicher Reinheit (Latein, dann Griechisch, später Hebräisch), von Edition, Kritik, Kommentierung und Übersetzung antiker Texte stark geprägt (Philologie). Humanisten manifestierten inhaltlich divergierende Interessen und Ansichten in Briefen, Reden, Dialogen, Gedichten und anderen Textgattungen. Gemeinsam ist ihnen die pädagogische Überzeugung, über sprachliche Vermittlung ethisch-politische Praxis (vita activa) lehren zu können, und das Selbstbewusstsein, die antiken bonae litterae nach dem scholastischen Mittelalter neu belebt zu haben (Renaissance).

Rahmenbedingungen und Frühhumanismus

Holzschnitt von Urs Graf für das Titelblatt der Helvetiae descriptio, die Glarean 1514 bei Adam Petri in Basel veröffentlichte (Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn O IV 8).
Holzschnitt von Urs Graf für das Titelblatt der Helvetiae descriptio, die Glarean 1514 bei Adam Petri in Basel veröffentlichte (Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn O IV 8). […]

Der Humanismus bot angesichts der spätmittelalterlichen Umbrüche – zunehmende Bedeutung der Geldwirtschaft, Urbanisierung, innereidgenössische politische Spannungen – insbesondere den lesekundigen städtischen Laien (maximal 5% der Einwohner) im Dialog mit antiker humanitas neue Formen der Selbstvergewisserung. Im Unterschied zum Mittelalter bildeten dabei die Natur des Menschen und die Bedeutung der Sprache für die Vergesellschaftung zentrale Themen. Von Italien aus entwickelte sich ein Netz von meist wandernden Lehrern der studia humanitatis, die in städtischen und höfischen Kanzleien, als Schulmeister, Professoren an der Artistenfakultät von Universitäten und Stadtärzte, aber auch als Geistliche (v.a. Dom- und Chorherren) ihr oft gutes Auskommen fanden. Sie verkehrten in lokalen Akademikerkreisen und mit politischen Eliten, die den wachsenden Anforderungen von Verwaltung, Rechtsprechung, Fernhandel und internationaler Diplomatie genügen mussten. Theoretische Debatten setzten nun solide philologische Kenntnisse voraus. Insofern wurde Humanismus als "Geistesadel" wie die Militärlaufbahn ein Mittel sozialen Aufstiegs für Minderprivilegierte, insbesondere für solche der Landschaft. Für die Schweiz sehr wichtig war die Immigration fremder Gelehrter beispielsweise aus Franken, dem Elsass, Frankreich und Italien. Ein spezifischer "Schweizer" Humanismus ist selbst ein humanistisches Produkt, insofern Enea Silvio Piccolomini 1458 das Wort Helvecia (Helvetia) prägte und Humanisten – zum Beispiel Glarean in seiner "Helvetiae descriptio" (1514) – gesamteidgenössische kulturelle Zusammengehörigkeit postulierten. Für die Eidgenossenschaft des 15. Jahrhunderts waren die geistigen Orientierungspunkte noch die Bistümer Konstanz und Basel, die als Konzilsorte den Austausch mit Italien erleichterten. In Basel und am Kaiserhof in Wien wirkte Piccolomini von 1432 bis 1455 als Sekretär und einflussreichster Lehrer des Humanismus. Im schwäbisch-ostschweizerischen Raum vermittelte der Kanzleischreiber Niklaus von Wyle die Werke Piccolominis als Stilideal durch Übersetzungen, gedruckte Edition (1478) und rhetorische Anweisungen. Textsammlung und Textvermittlung kennzeichneten den Korrespondentenkreis um Wyle, insbesondere seinen Schüler Albrecht von Bonstetten, der in Einsiedeln 1479 unter ptolemäischem Einfluss eine erste schweizerische Landeskunde verfasste. Eine solche schrieb 1497 auch Conrad Türst.

Ebenfalls auf Piccolomini als Papst Pius II. geht die Gründung der Universität Basel 1460 zurück. Petrus Antonius aus Finale bei Genua erhielt 1464 den ersten besoldeten Lehrauftrag in arte humanitatis; der in Padua ausgebildete Poetik- und Medizinprofessor Peter Luder begründete 1465 die erste humanistische Gemeinschaft oder Sodalitas. Der Prediger Johannes Heynlin vermittelte 1464-1466 und ab 1474 den Pariser Frühhumanismus (Guillaume Fichet) und die Humanistenschrift (Schrift). Sein Schüler Johannes Reuchlin lernte bei Andronikos Kontoblakas Griechisch und unterrichtete es selbst. Mit Jakob Wimpfeling und Sebastian Brant reichte die Sodalitas bis ins Elsass. Vom Heynlin-Schüler Johannes Amerbach an, der ab 1475 in Basel wirkte, wurde für sie der Buchdruck entscheidend, der auf der Infrastruktur des Konzils von Basel aufbaute, konkret auf Papiermühlen, Bibliotheken, Kopisten, Übersetzern, Vertriebskanälen und Zunftprivilegien. Die Offizinen von Johannes Froben, Johannes und Adam Petri, Andreas Cratander und Valentin Curio verbreiteten antike und humanistische Texte und beschäftigten Gelehrte als Korrektoren. Wichtige Buchdruckereien entstanden später in Zürich – so 1519 diejenige von Christoph Froschauer – und in der reformierten Westschweiz. In Genf blühte der ab 1478 bestehende Buchdruck ab 1549 mit der Familie Estienne und mit Jean Crespin; weitere Buchdruckereien bestanden in Neuenburg und Lausanne. In den katholischen Orten spielte der Buchdruck erst spät – in Zug beispielsweise ab 1570 – und nur marginal eine Rolle.

Im 15. Jahrhundert studierte eine rasch wachsende Zahl von Schweizern vor allem in Heidelberg, Tübingen, Freiburg im Breisgau, Köln, Leipzig und Erfurt; um 1500 dominierte Basel. Wichtig war auch Wien, ferner Paris und Orléans sowie in qualitativer Hinsicht Italien; in Pavia studierte unter anderen Albrecht von Bonstetten. Der polemische Methodenstreit gegen scholastische Fakultäten förderte die Gruppenbildung. Studenten folgten humanistischen Lehrern besonders der eigenen Region; Anziehungspunkte waren zum Beispiel die Bursen des Glarean in Basel, Paris und Freiburg im Breisgau. In Zentren des Humanismus entstanden Zirkel von Lehrern, Schülern und Freunden, die durch Reisen und Briefwechsel international vernetzt waren.

Blütezeit

Die Schweiz lag im Schnittbereich des oberrheinischen, auf Westeuropa ausgerichteten, juristisch und theologisch geprägten Humanismus und des literarischen Humanismus um Maximilian I. im Donauraum. In Wien wirkte 1501-1518 der 1514 zum Poeta laureatus erkorene St. Galler Vadian, der viele ostschweizerische Studenten anzog. Städtische Lateinschulen vermittelten den Humanismus, so die Schulen in Schlettstadt (Johannes Sapidus), Rottweil (Michael Rötlin) und – mit Rottweil verbunden – Bern (Heinrich Wölfli, Valerius Anshelm, Melchior Volmar). In Basel bot die Universität manchem Humanisten ein Auskommen. Der Mittelpunkt aber war Erasmus von Rotterdam, der sich 1514-1516, 1518, 1521-1529 und 1535-1536 in Basel aufhielt und den der Buchdruck und namentlich Frobens griechische Typen für die Edition der Kirchenväter anzog. Erasmus vermittelte in seiner Philosophia Christi synthetisch antike und christliche Pädagogik und Ethik und trat ein für einen praktizierten Glauben – inbesondere Pazifismus – anstelle von blossen Frömmigkeitsritualen und Verweltlichung. Aus der philologischen Textkritik erwuchs das griechisch-lateinische "Neue Testament" von 1516 als Voraussetzung, um in der Exegese den mittelalterlichen vierfachen Schriftsinn auf einen (möglichst literalen) Sinn zu reduzieren. Erasmuskult und "biblischer Humanismus" prägten Humanisten der Basler Sodalitas wie Froben, Glarean, Ludwig Bär, Bruno und Bonifacius Amerbach, Bischof Christoph von Utenheim, Georg Carpentarius aus Brugg, den Schwaben Johannes Œkolampad, die Elsässer Beatus Rhenanus, Wolfgang Capito, Kaspar Hedio und Konrad Pellikan, Sigismund Gelenius aus Prag sowie die Juristen Claudius Cantiuncula aus Lothringen und Johannes Sichardus aus Tauberbischofsheim. In Briefen wirkte Erasmus weithin. So stand er unter anderen auch mit Thiébaut Biétry (Pruntrut und Besançon) und Martino Bovollino (Mesocco) in Kontakt; seine Werke wurden von Leo Jud übersetzt. Seine Anhänger fanden sich, oft nach Studien in Basel und Wien, in humanistischen Zirkeln in Freiburg (um Peter Falck, mit späteren Reformierten wie Pierre Girod; vorübergehend Agrippa von Nettesheim), Luzern (Ludwig Carinus sowie die später reformierten Johannes Xylotectus, sein Schüler Rudolf Ambühl und Oswald Myconius), Zug (die später reformierten Jodocus Molitor und Peter Kolin), Glarus (Valentin, Peter und Aegidius Tschudi) und Schaffhausen (Stadtarzt Johannes Adelphus); Melchior Macrinus wirkte in Solothurn, Diebold von Geroldseck in Einsiedeln. Besondere Bedeutung kam seit Reuchlin der Hebraistik zu: Konrad Pellikan, Wolfgang Capito, Jakob Ceporin, später Theodor Bibliander, Sebastian Münster und Johannes Buxtorf beschäftigten sich mit hebräischen Texten; Froben besass ab 1516 hebräische Typen.

Humanismus und Reformation

Humanismus und Reformation sprachen gleichermassen den gebildeten städtischen Laien an, der einen direkten, individuellen Zugang zu Gott suchte: Durch ihre existentielle Problematik und den Gebrauch der Volkssprache erreichte die Reformation aber weitere Kreise. Huldrych Zwinglis Werdegang ist typisch für den schweizerischen Humanismus: Geburt in der Provinz, Lateinschule in Bern bei Wölfli, Studien in Wien und Basel, Lektüre italienischer Humanisten, Aneignung des Griechischen und Hebräischen, Verehrung des Erasmus. Während dieser jedoch an der kirchlichen Einheit festhielt, empfand Zwingli die Reformation als Konsequenz aus der Kirchenkritik und der Rückkehr zum ursprünglichen Bibelwort im erasmischen Humanismus. Aus Ad fontes wurde Sola scriptura. 1522 kam es zur Entfremdung zwischen den beiden Humanisten, doch blieb Zwingli Erasmus trotz unterschiedlicher Ekklesiologie stets verbunden und geprägt von dessen Pädagogik, Schriftprinzip, Christozentrik und dem Gegensatz zwischen Fleisch und Geist, was sich unter anderem im Abendmahlsstreit zeigte. Von Martin Luther grenzte Zwingli sich unter anderem durch die altphilologische Gewissenhaftigkeit ab. Zudem betonte er den Gesetzescharakter der Schrift, die im erasmisch-sozialkritischen Sinn ebenso die kirchliche wie auch die politische Ordnung regeln sollte; diese praktische Forderung vertrat er im Sinne eines gesamteidgenössischen Patriotismus. In seinem Gefolge wurden die meisten Humanisten reformiert und deshalb aus Luzern, Zug und Freiburg vertrieben; dagegen verliessen die altgläubigen Erasmus, Cantiuncula, Rhenanus, Bär und Glarean Basel. Vom erasmischen Spiritualismus inspiriert wurden einzelne zu Täufern, so Vadians Schwager Konrad Grebel. In der Westschweiz fand sich humanistische Bildung vor der Reformation nur ansatzweise, so etwa bei François Bonivard. Guillaume Farel, Pierre Viret, Johannes Calvin und Theodor Beza erhielten in Frankreich eine humanistische Bildung, die ihren Stil zeitlebens prägte. Anders als bei den deutschschweizerischen Reformatoren bedeutete aber in ihrer Biografie die Konversion einen klaren Bruch mit dem "weltlichen" Humanismus und dem "frivolen" Erasmus.

Humanismus nach der Glaubensspaltung

Das Neue Heilige Testament unseres Herrn Jesus Christus, aus dem Lateinischen und aus anderen Sprachen übersetzt ins Rätoromanische von Jachiam Bifrun aus dem Engadin, gedruckt im Jahre 1560 (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur).
Das Neue Heilige Testament unseres Herrn Jesus Christus, aus dem Lateinischen und aus anderen Sprachen übersetzt ins Rätoromanische von Jachiam Bifrun aus dem Engadin, gedruckt im Jahre 1560 (Kantonsbibliothek Graubünden, Chur). […]

Trotz der Glaubensspaltung blieben manche Kontakte der Humanisten innerhalb der Eidgenossenschaft und auf internationaler Ebene erhalten, so unter anderem diejenigen zu Philipp Melanchthon und Martin Bucer. Die 1525 gegründete Schola Tigurina beruhte wie die Hohen Schulen in Bern, Lausanne und Genf (Akademien) auf den drei alten Sprachen und beschäftigte führende Philologen. Die reformierten Städte zogen weiter Gelehrte der Landschaft und aus dem Ausland an (Petrus Dasypodius, Thomas Platter der Ältere, Simon Grynaeus), während Tessiner Gelehrte ihre Karriere in Italien machten (Giovanni Pietro Albuzio, Francesco Ciceri, Andrea Camuzzi). Der reformierte Vadiankreis prägte die Ostschweiz; in Graubünden fand sich der Humanismus auch beim Dichter Simon Lemnius, bei den Begründern der ladinischen Schriftsprache (Jachiam Bifrun, Johann Travers) und bei italienischen Refugianten (Pietro Paolo Vergerio). Letztere zogen nach Zürich (Petrus Martyr Vermigli) und vor allem Basel (Celio Secondo Curione, Pietro Perna, Sebastian Castellio aus Savoyen), wo sich der Humanismus in der Via media und der Debatte über religiöse Toleranz lange hielt und dank des Freiraums der Drucker mit Johannes Oporinus und Heinrich Pantaleon neu aufblühte; auch die Universität blieb im 16. Jahrhundert international attraktiv. Die katholischen Orte schickten Studenten ins Ausland, insbesondere zu Glarean; als rhetorische Waffe vermittelten Jesuiten formalen Humanismus ab 1577 in Luzern. Die Konfessionalisierung setzte jedoch dogmatische Heilsgewissheit anstelle von dialogischer Lebensgestaltung und bedeutete damit in allen Konfessionen das Ende des Humanismus (Zensur, zuletzt in Basel). Nur in der philologischen Vermittlung antiken Kulturguts, die vor allem in Genf mit Isaac Casaubon, Joseph Justus Scaliger und Denys Godefroy blühte, konnte er weiterleben.

Humanismus in den Wissenschaften und Künsten

Titelseite der Colloques von Mathurin Cordier, zweisprachige lateinisch-französische Ausgabe, herausgegeben 1598 in Genf (Bibliothèque publique et universitaire de Neuchâtel).
Titelseite der Colloques von Mathurin Cordier, zweisprachige lateinisch-französische Ausgabe, herausgegeben 1598 in Genf (Bibliothèque publique et universitaire de Neuchâtel). […]

In der Rechtswissenschaft dominierte neben philologischem Studium und Edition des römischen Rechts der Kampf des historisierenden mos gallicus gegen den glossierenden mos italicus (Rechtsschulen), wobei in Basel Bonifacius Amerbach einen Ausgleich suchte. In den Naturwissenschaften wurde der Horizont erweitert durch das Studium antiker Autoren und Reisen (Vadians Pilatusbesteigung von 1518), später durch Systematisierung (Konrad Gessner). Ähnlich folgte in der Medizin auf Edition und Kommentierung der Klassiker die empirische Anatomie im Gefolge des Andreas Vesalius (Felix Platter). Glarean versuchte, das zeitgenössische Musikschaffen mit der antiken Musiktheorie in Übereinstimmung zu bringen ("Dodekachordon" 1547). Die antike Überlieferung inspirierte das Schauspiel – etwa Heinrich Bullingers Lucretia-Drama – und die Historiografie, die eine historische Kontinuität des freiheitsliebenden "helvetischen" Alpenvolks postulierte (Johannes Stumpf, Aegidius Tschudi). Darin waren sich katholische und protestantische Autoren einig. Aus demselben Geist entstand 1576 Josias Simlers "De Republica Helvetiorum libri duo" zur Betonung gesamteidgenössischer politischer Gemeinsamkeiten.

Quellen und Literatur

  • Bibl. internat. de l'humanisme et de la Renaissance, 1969-
  • Jacques Godefroy (1587-1652) et l'humanisme juridique à Genève, hg. von B. Schmidlin, A. Dufour, 1991
  • W. Rüegg, «Humanist. Elitenbildung in der Eidgenossenschaft z.Z. der Renaissance», in Die Renaissance im Blick der Nationen Europas, hg. von G. Kauffmann, 1991
  • Gesch. der Universität in Europa, hg. von W. Rüegg, 4 Bde., 1993-2010
  • H.R. Guggisberg, Zusammenhänge in hist. Vielfalt: Humanismus, Spanien, Nordamerika, 1994
  • C. Augustijn, Erasmus, 1996
  • T. Maissen, «Literaturber. Schweizer Humanismus», in SZG 50, 2000, 515-544
  • I.D. Backus, Historical Method and Confessional Identity in the Era of the Reformation (1378-1615), 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Thomas Maissen: "Humanismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017432/2015-03-18/, konsultiert am 19.03.2024.