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Positivismus

Der Begriff Positivismus bezeichnet – mitunter in polemischer Absicht – ein Denken oder eine Haltung, die sich durch die Konzentration auf das empirisch Gegebene, die konsequente Ablehnung jeglicher Metaphysik und einen ausgeprägten Fortschrittsglauben charakterisiert (Fortschritt). Historisch lässt sich ein älterer von einem neueren Positivismus unterscheiden.

Positivismus ist die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Franzosen Claude Henri de Saint-Simon geprägte Bezeichnung für die wissenschaftliche Methode und deren Übernahme durch die Philosophie, die von seinem Landsmann und Begründer der Soziologie Auguste Comte aufgenommen wurde. Die von Comte formulierte «philosophie positive» entwickelte sich zu einer der bedeutendsten philosophischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. In England wurde der Positivismus durch John Stuart Mill und Herbert Spencer weiterentwickelt. In Deutschland entwarfen Ernst Mach und Richard Avenarius den «Empiriokritizismus». Als einziger namhafter Vertreter des älteren positivistischen Denkens in der Schweiz lehrte Avenarius 1877-1896 an der Universität Zürich. Seinem System blieb im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Anerkennung versagt.

In den 1920er und 1930er Jahren formierte sich der sogenannte Wiener Kreis, eine Gruppe von Wissenschaftlern, darunter Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Otto Neurath, die unmittelbar an die Ansätze von Avenarius und Mach anknüpften. Ihre Auffassungen werden unter den Begriffen Neopositivismus oder logischer Positivismus (englisch Logical Empiricism) subsumiert. Diesem neueren Positivismus ist mit dem älteren zwar die allgemeine Stossrichtung gemeinsam, aber Logik und Mathematik werden unterschiedlich beurteilt. Zudem stützt sich der logische Positivismus methodisch weitgehend auf eine logische Analyse der Sprache.

Als früher Vertreter des Neopositivismus in der Schweiz gilt Karl Dürr. Der Mitgründer der Internationalen Gesellschaft für Logik und Philosophie der Wissenschaft lehrte ab 1916, zuerst als Privatdozent, ab 1934 als ausserordentlicher Professor für mathematische Logik und Erkenntnistheorie an der Universität Zürich und trug wesentlich dazu bei, die Gedankenwelt des logischen Positivismus in der Schweiz bekannt zu machen. Dabei wurde er vom Wissenschaftshistoriker und Soziologen Emil Jakob Walter unterstützt. Insgesamt blieb der Einfluss des Neopositivismus in der Schweiz aber gering.

Die positivistische Strömung erfasste im 19. Jahrhundert auch die Kulturwissenschaften. Aus der Übertragung des positivistischen Programms auf die Geschichtswissenschaften resultierte die Auffassung, dass Geschichte nach bestimmten Gesetzen ablaufe und diese – wie Naturgesetze durch den Naturwissenschaftler – durch den Historiker zu entdecken seien, ferner die Suche nach kausalen Zusammenhängen im geschichtlichen Ablauf und die Abwendung von der rein politischen Geschichte bzw. die Hinwendung zu einer Geschichte aller menschlichen Lebensbereiche. Positivistische Geschichtsauffassungen wurden in Europa kaum ausserhalb der akademischen Institutionen vertreten und blieben auch in der akademischen Geschichtsschreibung der Schweiz unbedeutend.

Unter den Begriff Rechtspositivismus fasst man Theorien, welche das Recht ohne Rückgriff auf metaphysische Annahmen (z.B. göttliches Recht, Naturrecht, Ideen) zu begründen suchen. Rechtspositivistischen Theorien ist eine relativistische Tendenz eigen, da sie sich nicht auf konstant bleibende Faktoren abzustützen pflegen, sondern auf variable Grössen wie zum Beispiel die Macht des jeweiligen Souveräns. Die Tradition des Rechtspositivimus reicht bis in die Antike zurück: Das ius positivum, das positive Recht, war der Terminus für vom jeweiligen Gesetzgeber gesetztes Recht. Als grundlegender Ansatzpunkt der Rechtsbegründung erfuhr der Begriff des positiven Rechts im 19. Jahrhundert eine Aufwertung. In der Schweiz war und ist der Rechtspositivismus, wenn man von Einzelerscheinungen (z.B. der junge Max Huber) absieht, keine markante Strömung.

Quellen und Literatur

  • K. Dürr, Von der Bildung der Begriffsinhalte, 1916
  • E.J. Walter, «Logistik, log. Syntax und Mathematik», in Vjschr. der Naturforsch. Ges. in Zürich 82, 1937, 1-20
  • N. Bobbio, Il positivismo giuridico, 1961
  • K. Dürr, «Metaphysik und Log. Positivismus», in Studia philosophica 22, 1962, 10-29
  • H. Lauener, «Wissenschaftstheorie in der Schweiz», in Zs. f. allg. Wissenschaftstheorie 2, 1971, 291-317
  • W. Ott, Der Rechtspositivismus, 1976 (21992)
  • Hist. Wb. der Philosophie 7, 1989, 1118-1123
  • M. Geier, Der Wiener Kreis, 1992
  • C. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, 1997, 65-87
  • R. Chickering, «The Lamprecht Controversy», in Historikerkontroversen, hg. von H. Lehmann, 2000, 17-29
  • The Vienna Circle and Logical Empiricism, hg. von F. Stadler, 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Christian Baertschi: "Positivismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.09.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017453/2010-09-29/, konsultiert am 11.04.2024.