Kretinismus ist eine irreversible Unterentwicklung des menschlichen Hirns, die mit Taubstummheit, Kleinwuchs und Missbildungen der Knochen und Gelenke einhergeht. Kretinismus entsteht gewöhnlich beim Fötus oder Neugeborenen durch schweren Jodmangel in der Ernährung und den damit verbundenen Mangel an Schilddrüsenhormonen (endemischer Kretinismus). In seltenen Fällen ist der Kretinismus genetisch bedingt (familiärer Kretinismus). Bei einseitiger Ernährung (wie in der Schweiz in Kriegszeiten oder in heutigen Entwicklungsländern) können zudem Selenmangel oder ein Überschuss an Substanzen, die den Jodkreislauf hemmen, verstärkend wirken. Kretinismus war wohl seit der Steinzeit in allen Kontinenten dort endemisch, wo der Jodmangelkropf sehr häufig auftrat. Dies war auch in den hochalpinen schweizerischen Bergtälern der Fall, in denen bis zu 90% der Bevölkerung durch Kropf und bis zu 2% durch Kretinismus gekennzeichnet waren. So wies eine ab 1843 durch die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft veranlasste Zählung im Wallis 3000 Kretine nach.
Die älteste Beschreibung des Kretinismus in den Alpen datiert von 1220 (Jacques de Vitry). Seither wurden das Phänomen und seine alpine Häufung wiederholt durch Italienreisende, die die Alpen überquerten, sowie durch Gelehrte wie Felix Platter (1536-1614), Albrecht von Haller (1708-1777), Horace Bénédict de Saussure (1740-1799) und Heinrich Zschokke (1771-1848) dokumentiert. Der medizinische Begriff Kretinismus entstand erst im 18. Jahrhundert und zwar im Wallis. Er stammt vom französischen Begriff crétin oder crestien, der auf das lateinische cristianus oder (armer) Christ zurückzuführen ist. Da ein grosser Kropf als Zeichen mangelnder Intelligenz galt, wurde der «Alpenkretin» zu einem Topos der bildenden Kunst. So fallen zum Beispiel in mancher Darstellung des Leidenswegs Christi die niedrigen Peiniger ― nicht aber die edlen Getreuen Jesu ― durch einen Kropf und kretinoide, plumpe Gesichtszüge auf.
In der Behandlung und Vorbeugung des Kretinismus haben schweizerische Wissenschaftler Pioniertaten geleistet. Eine romantisch inspirierte, idealistische Methode zur Behandlung geistig behinderter Kranker im 19. Jahrhundert geht auf die vom Arzt Johann Jakob Guggenbühl 1841 gegründete Kretinenheilanstalt Abendberg oberhalb Interlaken zurück. Sie wird heute als Vorläufer späterer neuro-psychiatrischer Anstalten betrachtet (Anstaltswesen). Die vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts an entwickelte Chirurgie des Kropfes und die damit verbundenen wissenschaftlichen Beobachtungen des Kretinismus brachten Theodor Kocher 1909 als erstem Chirurgen den Nobelpreis für Medizin ein. Die ab 1922 in Appenzell Ausserrhoden, später gesamtschweizerisch durchgesetzte Vorsorge mit Jodsalz hatte weltweiten Pioniercharakter. Sie war das Verdienst von Ärzten wie Hans Eggenberger, Otto Bayard, Heinrich Hunziker und Fritz de Quervain. In der Folge wurden in der Schweiz keine Kretine mehr geboren, und der wohl letzte Kretin starb in den 1970er Jahren. Nach dem Vorbild der Schweiz wurde der Kretinismus in den anderen Industrieländern ebenfalls ausgerottet, während er in der Dritten Welt bis heute weiter besteht.