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Frühmittelalterliche Kunst

Das Frühmittelalter war eine Epoche des Umbruchs, wobei das Christentum in vielerlei Hinsicht eine Klammer zwischen der spätantiken und der mittelalterlichen, auf römischen wie germanischen Grundlagen aufbauenden Kultur darstellt. Die Bischöfe erfüllten ab dem ausgehenden 4. und dem frühen 5. Jahrhundert viele Staatsaufgaben, die vorher von der städtischen oder der imperialen Verwaltung wahrgenommen worden waren und die bis zur Gewährleistung des militärischen Schutzes reichen konnten. Diese neue Rolle der Bischöfe sowie andere Faktoren führten zu einem Machtzuwachs der Kirche und zur Christianisierung der Bevölkerung, was sich direkt auf die Kunst auswirkte: Wenn wir von den kostbaren Grabbeigaben (Schmuck, Gefässe usw.) einmal absehen, ist die frühmittelalterliche Kunst überwiegend kirchliche und christliche Kunst, was durchaus nicht ausschloss, dass weltliche Herrscher wie zum Beispiel Karl der Grosse alle Möglichkeiten zur politischen Selbstdarstellung innerhalb und mit dieser Kunst ausschöpften.

Der geografische Rahmen

Kreuzigung Christi. Irisches Evangeliar, um 750 (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 51, S. 266; e-codices).
Kreuzigung Christi. Irisches Evangeliar, um 750 (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 51, S. 266; e-codices). […]

Zahlreiche Hauptwerke der europäischen Kunst des Frühmittelalters sind im Gebiet der heutigen Schweiz erhalten geblieben: die Architektur, Malerei und Skulptur des Klosters St. Johann in Müstair, die Bauplastik und die Handschriften des Klosters St. Gallen, die Kirchenschätze von Beromünster, Chur und Saint-Maurice. Trotz dieses Reichtums kann die frühmittelalterliche Kunst nicht aus schweizerischer Perspektive beurteilt werden, denn das Gebiet der Schweiz bildete weder in der Antike noch im Frühmittelalter eine Einheit. Bestimmend waren vielmehr die ursprünglichen Zugehörigkeiten zu den Diözesen und Erzdiözesen, deren Strukturen im Frühmittelalter fliessend waren: So wechselte das für die Kunst so bedeutende Bistum Chur vom Erzbistum Mailand zu demjenigen von Mainz. Aber auch von anderen, zum Teil entfernter gelegenen Zentren und Gegenden wie Aquileia, Vienne, der Tarentaise, Salzburg und vor allem von den britischen Inseln, deren Kunst für die Epoche prägend wurde, gingen Einflüsse auf das Gebiet der Schweiz aus. So haben zum Beispiel irische Mönche mit Büchern wie dem Evangeliar von St. Gallen (Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 51) ihre Spuren hinterlassen. Die Buchmalerei spielt bei der Erforschung der frühmittelalterlichen Kunst eine besondere Rolle, weil sich zwischen den Buchdeckeln die Originale oft in unverfälschter Frische erhalten haben, was bei Werken anderer Kunstgattungen nur sehr selten der Fall ist. Aber auch die überaus vielen Varianten von Flechtbändern, die in der Malerei, in der Skulptur und im Architekturschmuck allgegenwärtig sind, lassen sich ohne angelsächsischen Einfluss nicht erklären. Der Fussboden aus weissem und schwarzem Marmor in Riva San Vitale (um 500) erinnert dagegen an die Zierplattenbeläge aus zeitgleichen Mailänder Kirchen.

Kunstgattungen und Bestand

Der grossen Zahl boden- und bauarchäologisch nachgewiesener frühmittelalterlicher bzw. vorromanischer Kirchenbauten (Kirchenbau) steht eine überschaubare Hinterlassenschaft frühmittelalterlicher Kunst gegenüber: Bauplastik, Stuck, Malerei, liturgische Ausstattungen und Gerätschaften aus Kloster- und Bischofskirchen, in Auftrag gegeben von geistlichen und weltlichen Fürsten. Die frühesten Werke finden sich in vormals römischen Zentren, wie die Ausmalung des unterirdischen Grabraums (Hypogaeum) von St. Stephan in Chur (4./5. Jh.), der bauplastische Schmuck von Avenches (Pilasterkapitelle aus dem 4., eher dem 5. Jh.) und der Friedhofskirche Soux-le-Scex in Sitten (Rechtecksaal aus dem 4. Jh., der in den folgenden Jahrhunderten mit Anbauten und Apsiden kontinuierlich erweitert wurde).

Die künstlerische Vielfalt dieser Zeit ist noch kaum erschlossen. Der Chronist Ratpert rühmte die schier grenzenlose Schaffenskraft des St. Galler Künstlermönchs Tuotilo. Das 874 geweihte Zürcher Fraumünster wird in einem Weihegedicht beschrieben. Demnach bildeten die Architektur, die bunte Verglasung der Fenster, die bemalte Decke und die mit kostbaren Metallen (Erz, Silber, Gold) verzierten Wände ein künstlerisches Ganzes, dem man nur mit dem – allerdings erst im 19. Jahrhundert geprägten – Begriff des Gesamtkunstwerks gerecht wird. All die Kunstwerke sollten die Vermittlung der Predigt unterstützen, welche Bezug auf die Bilder in den Kirchen nahm.

Einbanddeckel eines Antiphonars aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Der Dekor besteht aus zwei Elfenbeintafeln des 8. oder 9. Jahrhunderts mit der Darstellung der Apostelfürsten Petrus und Paulus im Habitus antiker Philosophen (Stiftsschatz Beromünster; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).
Einbanddeckel eines Antiphonars aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Der Dekor besteht aus zwei Elfenbeintafeln des 8. oder 9. Jahrhunderts mit der Darstellung der Apostelfürsten Petrus und Paulus im Habitus antiker Philosophen (Stiftsschatz Beromünster; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf). […]

Den Eindruck von solchen räumlich, funktional und künstlerisch gewachsenen Gesamtkunstwerken vermag heute allerdings nur mehr die summarische Zusammenschau von Werken der einzelnen Kunstgattungen, die an verschiedenen Orten überliefert sind, zu vermitteln. In situ erhalten und/oder inschriftlich überliefert sind Wandmalereien in Müstair, in St. Stephan in Chur, Riva San Vitale und St. Gallen. Als Deckenmalerei vermittelt die Bilderdecke von St. Martin in Zillis, wie spätantike oder frühmittelalterliche Vorbilder im 12. Jahrhundert rezipiert worden sind. Funde frühmittelalterlicher Fenstergläser stammen aus Soux-le-Scex und Müstair; der Strassburger Christuskopf dient als Referenz. Grössere Bestände bauplastischen Schmucks wurden im Gozbert-Münster in St. Gallen, in der Kathedrale Saint-Pierre sowie in Saint-Victor in Genf und im Basler Münster ausgegraben. Liturgische Ausstattungen sind für Romainmôtier, Saint-Germain sowie Saint-Gervais in Genf, Saint-Maurice, Santi Fabiano et Sebastiano in Ascona, Castel San Pietro, Müstair und in der Kathedrale sowie in St. Martin in Chur nachgewiesen. Stuckarbeiten liegen aus dem Kloster Disentis und aus Saint-Pierre in Genf vor. Beispiele frühmittelalterlicher Bodenmosaiken (Mosaiken) stammen aus Riva San Vitale, St. Stephan in Chur und dem Baptisterium der Genfer Kathedrale. Aus diesem räumlich-funktionalen und künstlerischen Kontext stammen auch Werke der frühmittelalterlichen Buchkunst, zum Teil mit Elfenbeinschnitzereien auf den Einbänden, sowie liturgische Geräte und Reliquiare, mitunter kostbarste Gold- und Silberschmiedarbeiten. Die Elfenbeine Tuotilos, die als Einband des Codex Sangallensis 53 dienen, sind ihrerseits als Abklatsch der Ausmalung der karolingischen Abteikirche St. Gallen zu interpretieren. Der um 830 auf der Klosterinsel Reichenau entstandene St. Galler Klosterplan stellt sowohl einen Bauriss dar wie ein Meisterwerk der Zeichenkunst. Die Textilien, wie der Samsonstoff im Domschatz von Chur, waren Importe und wurden zur Einwicklung von Reliquien benutzt.

Formen und Inhalte

Ambo (Kanzelbrüstung) in der ehemaligen Klosterkirche Romainmôtier, vermutlich 8. Jahrhundert © Fotografie Michel Gaudard, Romainmôtier.
Ambo (Kanzelbrüstung) in der ehemaligen Klosterkirche Romainmôtier, vermutlich 8. Jahrhundert © Fotografie Michel Gaudard, Romainmôtier. […]

Formensprache, Farbigkeit und Ikonografie dieser Werke sind noch kaum systematisch erschlossen, lassen aber vielfache Verwandtschaften und Wechselbeziehungen zwischen den Kunstgattungen erkennen. Ornamental-geometrische Formen sind ebenso Bestandteil frühmittelalterlicher Kunstwerke wie Pflanzen- und Tiermotive, die zugleich von dekorativem wie oft auch symbolischem Gehalt sind. Dies zeigen vorab die Ranken- und Flechtwerkmuster in der karolingischen Buchmalerei und an den Marmorskulpturen, deren wichtigste Vertreter die Ambonen von Romainmôtier und Saint-Maurice sowie die aus Vinschgauer Marmor gefertigten Schrankenplatten aus der Kathedrale Chur und der Klosterkirche St. Johann in Müstair sind; weitere Flechtwerkplatten stammen aus Schänis. Inhaltlich herrschen aufgrund der sakralen Zweckbestimmung der Werke Themen der christlichen Heilsgeschichte und Heiligendarstellungen vor, wie sie in den Wandmalereien von Müstair exemplarisch vorgeführt und in den überlieferten Tituli (Beischriften zu bildlichen Darstellungen) für die Klosterkirche St. Gallen beschrieben werden. Dabei ergänzen sich die biblischen Darstellungen und die Tituli mit ihrer exegetischen Auslegung der Bilderzyklen gegenseitig.

Kunst und Propaganda

Frühmittelalterliche Kunst erfüllte stets bestimmte politische Zielsetzungen, die von den Auftraggebern, Bischöfen, Äbten und seltener weltlichen Fürsten, vorgegeben wurden. Ein propagandistischer Schachzug Karls des Grossen war die Ausstattung der Klosterkirche Müstair am Ofenpass mit einem Davidzyklus. David wurde nicht nur als Vorläufer Christi beschworen, sondern auch als Vorbild des karolingischen Königs und Kaisers. Dieser rechtfertigte damit seine Eroberung Oberitaliens, seine Krönung zum Kaiser durch den Papst und seine umfassenden Reformen in Politik, Bildung, Wissenschaft und Kultur (karolingische Renaissance). Er war es, der die Bibel neu redigieren liess, der seinen Lehrer Alkuin als Abt im Kloster St. Martin von Tours einsetzte und ihn dort die gigantische Bibelproduktion durchführen liess. Die Bibeln waren nicht nur Meisterwerke der Schrift- und Initialkunst, sondern auch der Illustration. Die Bibel aus dem Kloster Moutier-Grandval, heute in der British Library in London, legt davon genauso Zeugnis ab wie die sogenannten Alkuin-Bibeln in St. Gallen (Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 75) und Zürich (Zentralbibliothek, Ms. Car. C 1). Auch die archaisierende Stuckstatue Karls des Grossen, welche in Müstair aufbewahrt wird, ist in diesem Licht zu sehen; sie ist wohl zur Zeit der Heiligsprechung Karls entstanden, ahmt aber den karolingischen Stil nach.

Quellen und Literatur

  • J. Gantner, A. Reinle, Kunstgesch. der Schweiz, 4 Bde., 1936-62 (21968)
  • P. Ganz, Gesch. der Kunst in der Schweiz von den Anfängen bis zur Mitte des 17. Jh., 1960
  • B. Brenk, Die rom. Wandmalerei in der Schweiz, 1963
  • B. Brenk, Tradition und Neuerung in der christl. Kunst des ersten Jahrtausends, 1966
  • F. Oswald et al., Vorrom. Kirchenbauten, 1966-71 (21991)
  • A. Corboz, Frühes MA, 1971 (franz. 1970)
  • B. Schmedding, Ma. Textilien in Kirchen und Klöstern der Schweiz, 1978
  • W. Sulser, Die karoling. Marmorskulpturen von Chur, 1980
  • J. Duft, R. Schnyder, Die Elfenbein-Einbände der Stiftsbibliothek St. Gallen, 1984
  • AH
  • D. Thurre, L'atelier roman d'orfèvrerie de l'abbaye de Saint-Maurice d'Agaune, 1992
  • H.R. Sennhauser, St. Gallen: Klosterplan und Gozbertbau, 2001
  • Studien zum St. Galler Klosterplan II, hg. von P. Ochsenbein, K. Schmuki, 2002
  • Die ma. Wandmalereien im Kloster Müstair, hg. von A. Wyss et al., 2002
  • Frühe Kirchen im östl. Alpengebiet, hg. von H.R. Sennhauser, 2003
  • R. Cardani Vergani, L. Damiani Cabrini, Riva San Vitale: il battistero di San Giovanni e la chiesa di Santa Croce, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Christoph Eggenberger; Raffael Sennhauser: "Frühmittelalterliche Kunst", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.01.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024562/2011-01-19/, konsultiert am 18.04.2024.