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Helvetismus

Helvetismus bezeichnet in der Linguistik eine schweizerische Spracheigentümlichkeit. In anderer Bedeutung erscheint der Begriff Ende des 19. Jahrhunderts, um eine literarische Strömung des 18. Jahrhunderts zu beschreiben. Gonzague de Reynolds «Histoire littéraire de la Suisse au XVIIIe siècle» machte den helvétisme bekannt. Von einer Kategorie der Literaturgeschichte entwickelte sich der Helvetismus in der Zwischenkriegszeit zu einer weit gefassten Bezeichnung, die vor allem eine als spezifisch schweizerisch angesehene Ausrichtung im Geistesleben des 18. Jahrhunderts meinte. Eine besondere Tragweite erhielt der Begriff in der Diskussion um den Genfer Jean-Jacques Rousseau, dessen Verhältnis zur Schweiz und zur schweizerischen Aufklärung umstritten ist.

In der italienischsprachigen Schweiz wird als elvetismo die literarische Bewegung bezeichnet, die sich 1914 im Umfeld der Neuen Helvetischen Gesellschaft herausbildete. Sie betonte die eigenständigen Wurzeln der italienischsprachigen Kultur der Schweiz. Der Komparatist Fritz Ernst umschrieb Helvetismus 1954 als das der Vielheit entsprechende Einheitsgefühl, sofern es über den rein politischen Begriff hinausgeht.

Titelseite der Etrennes Helvétiennes von 1789 (Musée historique de Lausanne).
Titelseite der Etrennes Helvétiennes von 1789 (Musée historique de Lausanne). […]

Der Helvetismus des 18. Jahrhunderts gilt als Audruck des damaligen Nationalgefühls. Insbesondere Beat Ludwig von Muralt betonte die kritische Abgrenzung gegenüber einer als oberflächlich angesehenen französischen Kultur und vertrat das Postulat einer eigenständigen, alle Sprachgruppen umfassenden schweizerischen Mentalität. Seine 1725 erschienenen «Lettres sur les Anglais et les Français» gelten als einflussreiche programmatische Schrift des Helvetismus. Das erwachende Interesse der französischsprachigen Autoren der Westschweiz an einem gesamtschweizerischen Patriotismus traf sich mit den Forderungen Johann Jakob Bodmers, Inhaber des Lehrstuhls für Helvetische Geschichte in Zürich, und seines Kreises nach einer schweizerischen Nationalliteratur. Zu den eifrigsten Verfechtern eines Nationalbewusstseins, das die kantonalen Grenzen überstieg, gehörte der Waadtländer Philippe-Sirice Bridel, der als Schlüsselfigur des welschen Helvetismus die gemeinsame Natur und Geschichte als Grundlage der Nationalliteratur postulierte. Eng damit verknüpft war die Vorstellung, dass die Alpen für die Wesensmentalität der schweizerischen Identität prägend seien.

«Helvetisch» erschien im 18. Jahrhundert häufig als Bezeichnung einer Schweiz, die weiter gefasst war als die Eidgenossenschaft. Diese wurde nicht als ein komplizierter und hierarchisch abgestufter Komplex von Bündnissen und Abhängigkeiten verstanden, vielmehr bezeichnete der Begriff des «Helvetischen» das idealisierte Bild einer Schweiz, in der auch die Bürger der Waadt, Neuenburgs, Mülhausens und Genfs als gleichberechtigt angesehen wurden. Diese Ideen manifestierten sich auch in der 1761 gegründeten Helvetischen Gesellschaft. Als sogenannte Helvetische Tugenden (esprit suisse) wurden Schlichtheit, Naturverbundenheit, Vaterlandsliebe und ein der blossen Spekulation abholder bon sens angesehen. Der von 1732 bis 1784 in Neuenburg publizierte Mercure suisse entwickelte sich zur Plattform einer schweizerischen Literatur, die sowohl deutsch- als auch französischsprachigen Autoren offen stand.

"Gonzague der Helvetier. Er wäre gefährlich, wenn er stark wäre!". Gonzague de Reynold in einer Karikatur von Victor Gottofrey in der Zeitschrift L'Arbalète, 1916, Nr. 3 (Bibliothèque de Genève).
"Gonzague der Helvetier. Er wäre gefährlich, wenn er stark wäre!". Gonzague de Reynold in einer Karikatur von Victor Gottofrey in der Zeitschrift L'Arbalète, 1916, Nr. 3 (Bibliothèque de Genève). […]

Mit dem Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft verschwand zwar der Gegensatz zwischen Helvetisch und Eidgenössisch, doch die Frage nach einer übergreifenden schweizerischen Nationalliteratur und -kultur blieb weiterhin umstritten und unbeantwortet. Im 20. Jahrhundert manifestierte sich der Gedanke einer geistigen Schweiz in der Geistigen Landesverteidigung. Kulturpolitisch drückte sich diese Haltung unter anderem in der Gründung der Pro Helvetia oder der verfassungsmässigen Bestätigung des Rätoromanischen als Landessprache aus. Die Mehrdeutigkeit des Wortes Nation im deutschen und im französischen Sprachgebrauch erschweren bis heute eine einheitliche Verwendung des Begriffes Helvetismus. Allgemein bezeichnete er im 20. Jahrhundert ein schweizerisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Vielfalt des Landes als eigentliches kulturelles Merkmal betont, als Chance, aber auch als Einschränkung.

Quellen und Literatur

  • F. Störi, Der Helvetismus des "Mercure suisse", 1953
  • F. Ernst, Der Helvetismus, 1954
  • S. Gilardoni, Italianità ed elvetismo nel Canton Ticino negli anni precedenti la prima guerra mondiale (1909-1914), 1971
  • HbSG 2, 743-750
  • Lex. der Schweizer Literaturen, hg. von P.-O. Walzer, 1991, 181-185
  • C. Reichler, «Fabrication symbolique et histoire littéraire nationale», in Les temps modernes 550, 1992, 171-185
  • A. Clavien, Les helvétistes, 1993
  • Francillon, Littérature 1, 225-241
  • M. Gsteiger, «Vom "gemeineidgenöss. Nationalgefühl" zum "Plurikulturalismus"», in NZZ, 9./10.12.2000
Weblinks

Zitiervorschlag

François de Capitani: "Helvetismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.12.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024574/2007-12-05/, konsultiert am 09.04.2024.