Verrechtlichung bezeichnet einen langfristigen Prozess der Unterstellung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns unter das Recht und die staatliche Justiz. Mit kritischem Unterton bezeichnet Verrechtlichung auch die Überregulierung, die die Handlungsspielräume öffentlicher und privater Akteure einschränkt.
Historisch lässt sich Verrechtlichung insbesondere seit dem Ende des Mittelalters fassen, als sich das Gewaltmonopol in den Händen des frühneuzeitlichen Staates konzentrierte und Interessenkollisionen zunehmend durch Rechtsprechung gelöst wurden. Im Zuge dieses Prozesses wurde nicht nur der Interessenausgleich zwischen konkurrierenden Gruppen und Personen via Zivil- und Kriminalgesetzgebung allmählich «verrechtlicht», sondern es wurden ihm zunehmend neue Bereiche unterworfen: Der Prozess reicht von der Regelung des Verhältnisses konkurrierender Machtgruppen (z.B. Adel und Fürsten) über die Gestaltung des Verhältnisses von Obrigkeit und Untertanen bis hin zu den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder zwischen Patienten und Ärzteschaft in modernen Industriegesellschaften.
Bezüglich der Entwicklung in der Schweiz wurden in jüngerer Zeit Zweifel am Verrechtlichungsprozess geäussert. Lassen sich in den reformierten Schweizer Orten die «Reformationsordnungen» bzw. die «Ehegerichte» als solche auf das Alltagsverhalten der Untertanen abzielende Verrechtlichungsversuche interpretieren (Sittenmandate), so fehlt hier generell die für die frühe Neuzeit typische Form der Verrechtlichung durch monarchische Zentralgewalten bzw. übergeordnete Rechtsinstanzen (z.B. das Reichskammergericht oder die französischen parlements). Aufgrund der fehlenden oberen Instanzen bzw. Zentralstaatsstrukturen und der schwach ausgebildeten Staatlichkeit verzögerte sich die Verrechtlichung in der Schweiz. Hingegen förderte eine relativ ungebrochene Tradition des (auch gewaltsamen) Aushandelns von Interessenkonflikten bis ins 20. Jahrhundert letztlich eher Tendenzen zur Konsensbildung (Schiedsgericht, Eidgenössische Vermittlung).
Im 19. und 20. Jahrhundert trat im Zuge des Übergangs vom Obrigkeitsstaat zum liberalen Rechtsstaat eine starke Tendenz zur Liberalisierung und Deregulierung nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich ein, so etwa bei der Abschaffung der Zunftordnungen, der Gewährung der Niederlassungsfreiheit und der Aufhebung der Eheverbote, was als Gegenbewegung zur Verrechtlichung gedeutet werden kann. Dem standen allerdings im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats auch in der Schweiz Prozesse der Verrechtlichung wie etwa staatliche Eingriffe in die Arbeitswelt zur Verbesserung der Situation von älteren, kranken oder weiblichen Arbeitnehmern und Arbeitslosen gegenüber, die die allgemeine Tendenz zur Verrechtlichung in der Moderne bestätigen. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Verrechtlichung insbesondere in internationalen bzw. überstaatlichen Beziehungen zu konstatieren, etwa über die UNO-Menschenrechtserklärung oder die Europäische Menschenrechtskonvention, oder im Wirtschaftsrecht über die Rechtsetzungen der Europäischen Union.
Umstritten ist, wie Verrechtlichung zu bewerten ist. Bedeutete sie im Ancien Régime eine neue Stufe intensivierter Herrschaft über Untertanen, so zeigt sich gleichwohl, dass Verrechtlichung zu einer grösseren Rechts- und Verfahrenssicherheit für beide Seiten führte. Es lässt sich trotz der obrigkeitlichen Machtfülle bereits hier Gerichtsnutzung «von oben» wie «von unten» konstatieren. Durch Verrechtlichung wurden Konflikte auch ohne Dringlichkeit eingedämmt oder gar unterdrückt, gleichzeitig aber die Bandbreite der Reaktionsmöglichkeiten erweitert – und damit gegebenenfalls auch Protestreaktionen und Rekurse erst ermöglicht. Die Folge war eine tendenzielle Entpolitisierung der Interessenkonflikte, da sie nicht mehr auf politischer, sondern auf juristischer Ebene geregelt wurden.