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Soziale Konflikte

Der Begriff soziale Konflikte entstammt der modernen Soziologie und bezeichnet die Gegensätze zwischen grösseren sozialen Gruppen. Dabei kann es um immaterielle Werte (Prestige, Ehre), um sozialen Status und Macht oder um die Verteilung knapper Ressourcen gehen (Soziale Ungleichheit). Soziale Konflikte können offen ausgetragen werden oder latent bleiben. Ihre vielfältigen Ausdrucksformen umfassen eine Bandbreite von Störungen der "rechten" gesellschaftlichen Ordnung; sie reichen von der nur individuellen Symptomatik über ritualisierte und symbolische, sich geografisch auf engem Raum abspielende Formen, bis hin zu potenziell entgrenzten, eskalierenden Auseinandersetzungen (Bürgerkrieg).

Soziale Konflikte wurden früher vor allem in ihren zerstörerischen Aspekten wahrgenommen und als "soziale Katastrophen" verstanden. Heute ist sich die Soziologie darin einig, dass soziale Konflikte ein zentrales Element sozialen Wandels darstellen und mit Grundfragen der Organisation in Gruppen, Familien, Gemeinden, Unternehmen, Verbänden oder auch ganzen Gesellschaften zusammenhängen: Je starrer die Kontrollmechanismen sind, desto weniger finden soziale Konflikte legitimen Ausdruck, desto grösser ist ihre Intensität, wenn sie dann doch auftreten. Intensität muss allerdings nicht unbedingt mit physischer Gewalt einhergehen.

Systematisch erforscht wurden soziale Konflikte zumeist von Nicht-Historikern. Die Geschichtswissenschaft beschränkte sich auf einzelne, spektakuläre soziale Konflikte, ohne diese unter einem allgemeinen Begriff zu behandeln. Räumliche Vergleiche von sozialen Konflikten stehen ganz am Anfang, auch zeitliche Längsschnitte wurden bis anhin nur selten vorgenommen. Aufgrund der lang dauernden Dominanz der Staatsbildungsthematik in der Historiografie gehören für Spätmittelalter und Frühneuzeit soziale Konflikte zwischen herrschender Obrigkeit und Untertanen zu den am besten untersuchten Aspekten. Im 19. und 20. Jahrhundert stiess die Thematik unter dem Titel des Klassenkonflikts (Klassengesellschaft) auf besonderes Interesse: Lohnbewegungen und Streiks erfuhren statistische Erfassung und systematische Untersuchung. Seit den 1970er Jahren hat das Aufkommen sogenannter neuer sozialer Bewegungen die Soziologie zur Untersuchung vergleichbarer Phänomene angeregt. Mit dem Aufkommen der Sozialgeschichte fanden vernachlässigte Erscheinungsformen vermehrt Berücksichtigung, so der Umgang mit Minderheiten oder soziale Konflikte zwischen den Geschlechtern.

Spätmittelalter

Da für die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen sozialen Konflikte weder ein allgemeines Konfliktmodell noch eine empirische Gesamtdarstellung vorliegen, werden die erheblicheren, in Quellen und Literatur oft als "Händel" bezeichneten Fälle der variantenreichen eidgenössischen Konfliktkultur pragmatisch nach den Akteuren, Gegenständen, Formen und Resultaten epochenweise gruppiert. Die politischen Herrschaftsstrukturen (Herrschaft) bildeten den Rahmen der sozialen Konflikte, die wenige Wochen bis mehrere Jahrzehnte dauern konnten und sich grob in solche zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen relativ Gleichgestellten eines Verbandes und zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern eines Verbandes gliedern lassen.

Die sozialen Konflikte zwischen herrschender Obrigkeit und Untertanen lassen sich mit einem Eskalationsmodell darstellen: Aus aktueller Not formulieren Untertanen an (Gemeinde-)Versammlungen ihre kollektiven Beschwerden. Werden diese nicht bereinigt, kann der Konflikt in Form symbolischer Aktionen oder passiven Widerstands weiter schwelen oder sich als Einung (Verschwörung) radikalisieren. Werden die nun verschärften Forderungen der Untertanen nicht erfüllt, kann es zur Gewaltanwendung kommen. Beendet werden soziale Konflikte strafrechtlich und militärisch fast immer zu Gunsten der Obrigkeit oder schiedlich mit einem oft von Dritten auf einer beliebigen Eskalationsstufe vermittelten Vertrag, von dem in der Regel beide Seiten (in unterschiedlichem Masse) profitieren. Mit der Erneuerung des Treueides und einer Amnestie für Mitläufer werden Herrschaftsverhältnis und sozialer Friede wiederhergestellt.

Soziale Konflikte unter Gleichgestellten werden unter (adligen) Familienclans in Form der Fehde, in den Städte- und Landsgemeindeorten zwischen rivalisierenden Parteien in Form von Wahlen (zum Teil mit Bestechungen) in Ratsgremien oder an Landsgemeinden ausgetragen. In den Gemeinden vermittelt oft die Herrschaft zwischen den sozialen, rechtlich und beruflich divergierenden Gruppen. Je nach demografischen, ökonomischen, sozialen, politischen und religiös-kulturellen Umständen nehmen Verbände Fremde gleich- oder minderberechtigt auf, schliessen sie aus oder verfolgen sie (Fremdenfeindlichkeit).

Die Beendigung des Waldmannhandels. Illustration aus der Luzerner Chronik (1513) von Diebold Schilling (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Die Beendigung des Waldmannhandels. Illustration aus der Luzerner Chronik (1513) von Diebold Schilling (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

Typisch mittelalterliche Ausprägungen der sozialen Konflikte sind Fehden, ländliche Unruhen, städtische Unruhen und Judenpogrome (Antisemitismus). Die ab dem Frühmittelalter von (in der Schweiz auch nicht-adligen) Familien oder Sippen geführten Fehden um Rechtsansprüche, Erbschaften, Nutzungsrechte (Marchenstreit) oder Totschlag (Izzeli-Gruoba-Fehde) konnten zu eigentlichen Kriegen auswachsen (Sempacherkrieg 1386, Alter Zürichkrieg 1436-1450). Deren verheerende soziale Folgen konnten die ländlichen und städtischen Gemeinden mit den Fehdeverboten, schiedsgerichtlichen und gerichtlichen Verfahren der eidgenössischen Bünde (ab 1291) und Konkordaten (v.a. Pfaffenbrief 1370) im europäischen Vergleich früh eindämmen. Als typisch eidgenössische Ursache der ländlichen Unruhen gilt das von den Städten über die abhängigen Bauern beanspruchte Mannschaftsrecht (z.B. Grüningerhandel, Böser Bund im Berner Oberland). Die Verteilung der Pensionen löste insbesondere 1477-1515 zahlreiche soziale Konflikte aus (z.B. Saubannerzug, Zwiebelnkrieg, Könizer Aufstand). Die gegen spezifisch feudale Herrschaft gerichteten bäuerlichen Erhebungen (u.a. Schwur von Torre, Ringgenberger Handel, Raronhandel) waren wegen der früh geschwächten Stellung des Adels und der Leibeigenschaft relativ selten, aber zum Teil spektakulär (Appenzeller Kriege). Typisch europäisch waren die Aufstände zur Verteidigung Alter Rechte (u.a. Siegel- und Bannerhandel, Amstaldenhandel) und die zahlreichen Steuerrevolten ab dem 15. Jahrhundert (z.B. Wädenswilerhandel, Rorschacher Klosterbruch, Waldmannhandel). Konflikte um Mannschaftsrechte, Autonomie, Steuern und Nutzungen markieren den Widerstand von Körperschaften – oder von Kleinadligen (Twingherrenstreit 1469-1471) – gegen den Aufbau städtischer oder fürstlicher Territorien. Mit der Durchsetzung herrschaftlicher Interessen und der Angst vor (politischen) Verschwörungen wurden ab 1440 auch die Prozesse gegen zuerst vor allem männliche Hexen in der Westschweiz in Verbindung gebracht (Hexenwesen).

Nach mitteleuropäischem Muster organisierten sich im Spätmittelalter die Bürger in deutschschweizerischen Städten als geschworene Gemeinden und lösten sich vom Stadtherrn. Weniger erfolgreich (Avenches, Lausanne, Payerne) oder verspätet (Basel und Genf erst nach 1500) verlief die Loslösung vom Stadtherrn in anderen Städten. Während in der Westschweiz Zünfte keine politische Rolle spielten, vertrieben sie zum Beispiel in Zürich in der sogenannten Brun'schen Zunftrevolution 1336 die Adligen aus dem Rat und führten eine Zunftverfassung ein, die – mehrfach revidiert – bis 1798 in Kraft blieb. Rückeroberungsversuche seitens der Vertriebenen endeten zum Teil in Mordnächten. Indem (Herren-)Zünfte gegen Proteste der Zunftbasis die Ratswahl aus den Zünften durch die Kooptation ersetzten (Basel und Zürich 1401), etablierten sie sich als Obrigkeiten.

Die Lösung von sozialen Konflikten, sofern sie nicht den Beteiligten selbst gelang, war eine Hauptaufgabe der Tagsatzung. Sie verbot im Stanser Verkommnis 1481 unerlaubte Versammlungen und Eingaben sowie die Unterstützung aufrührerischer Untertanen anderer Orte. Trotzdem halfen besonders Länderorte fremden Untertanen gegen deren Herren.

Ungenügend erforscht ist die Koinzidenz von städtischen Unruhen und Judenpogromen (Bern 1294, Zürich 1401), die im Schweizer Raum eine spezifisch mittelalterliche Form der sozialen Konflikte darstellen und ihre höchste Intensität in den Pestjahren 1348-1349 erreichen.

Frühe Neuzeit

Neben den ländlichen und städtischen Unruhen traten in der Frühneuzeit innergemeindliche soziale Konflikte wie auch Teuerungs- und Handwerkerproteste stärker hervor. Vor allem erhielten die sozialen Konflikte durch die Reformation eine neue Dimension. Nach dem reformatorisch inspirierten Ittingersturm 1524 brachen 1525 vom Bodensee bis in den Jura Unruhen aus, eskalierten aber ausser in Graubünden (Ilanzer Artikel 1524, 1526) nicht wie im Deutschen Reich zu einem eigentlichen Bauernkrieg. Die Bauern legitimierten ihre Klagen zum Teil neu mit dem Evangelium. Glaubensfragen standen im Zentrum bei den Täufern oder bei den konfessionalen Ausdifferenzierungskonflikten, die sich lange hinziehen konnten (Appenzell, Glarnerhandel, Toggenburg, Veltliner Mord 1620, Gachnangerhandel 1610, Wigoltingerhandel 1664). Konfessionsstreit und Staatsbildung überlagerten sich (z.B. Kappelerkriege 1529-1531), sei es im Engagement für oder gegen die Reformation oder in den intensiven Verfolgungen jetzt meist weiblicher Hexen 1560-1680.

Auf die Herrschaftsintensivierung in den Städteorten und zugewandten Fürstentümern reagierten die Untertanen mit der Verweigerung des Treueides und mit einer neuen Welle von Steuerrevolten ab 1590 (z.B. Rappenkrieg) bis zum Bauernkrieg 1653, der mit seiner territoriumsübergreifenden Organisation und seinen systemsprengenden Zielen der schwerste der sozialen Konflikte vor 1798 war. Trotz ihres militärischen Sieges verzichteten die Obrigkeiten fortan auf geplante direkte Steuern und stehende Heere. Danach dominierten städtische Unruhen: Vor allem die Forderungen der zum Teil in Zünften organisierten Bürger (Basel 1691 und Zürich 1713, 1734-1736, 1777) nach mehr Partizipation und politischer Öffentlichkeit führten in Luzern (1651-1653), Bern (u.a. Henzi-Verschwörung) und Genf (Tamponnement, Genfer Revolutionen) zu oft massiven Konflikten mit dem zunehmend oligarchischen Rat (Oligarchie, Aristokratisierung). Die Untertanengebiete der Landsgemeindeorte wehrten sich im 18. Jahrhundert gegen Verschlechterungen (Livineraufstand, Werdenberger Landhandel); die bäuerlichen und landstädtischen Gemeinden forderten weniger Steuern und mehr Autonomie und Partizipation (Wilchingerhandel, Landestroublen, Toggenburg, Chenaux-Handel, Steinerhandel).

Die Vermittlungstätigkeit der Tagsatzung ging nach der Reformation zurück, ohne dass eine dem Deutschen Reich oder Frankreich vergleichbare Verrechtlichung der sozialen Konflikte mittels zentraler Gerichte stattfand. Ab dem 16. Jahrhundert wurden – zunehmend vom Territorialstaat geschlichtete – innergemeindliche soziale Konflikte zwischen Vollbauern und Tagelöhnern vor allem um die Allmendnutzung häufiger (Nutzungskonflikte). In den sozialen Konflikten mit der Obrigkeit kam es aus nicht nur sozialen Gründen zur Spaltung (Factio) der Untertanen in "Ungehorsame" und "Gehorsame" (z.B. Rappenkrieg, Toggenburg, Landestroublen). Dabei wurden Einzelpersonen und vor allem Amtsträger oft zur Teilnahme am Protest gezwungen. Parallele Phänomene waren die Parteikämpfe mit klientelistischen Elementen in den Länderorten des 17. und 18. Jahrhunderts (Harten- und Lindenhandel) und in den zugewandten Republiken, wo sie vom 15. bis 18. Jahrhundert zu kommunaler Selbstjustiz (Fähnlilupf bzw. Strafgericht in Graubünden, Mazze im Wallis) führen konnten.

Gegen aussenstehende Personen reagierten die städtischen und ländlichen Gemeinden vom 16. Jahrhundert an mit der Abschliessung des Bürgerrechts. Damit korrespondierten die oft auf Wunsch der Untertanen organisierten staatlichen "Jagden" auf Bettler (Bettelwesen), Fahrende (Jenische) und Flüchtlinge, auf Juden, Täufer und Zigeuner.

Die Teilnahme von Frauen an sozialen Konflikten ist selten dokumentiert, doch scheinen sie oft im Hintergrund agiert zu haben. Deutlicher traten die Knabenschaften hervor. Die Einordnung kollektiver und individueller Protestaktionen (z.B. Verweigerung, Wilderei, Schmuggel, Holzdiebstahl) schwankt zwischen Sozialrebellentum und schlichter Kriminalität. Nur für Genf sind die vor allem aus Westeuropa bekannten Teuerungsproteste (1698, 1749, 1789) sowie Handwerker- und Gesellenstreiks (1533-1794 17 Fälle) untersucht, doch gab es sie auch in Zürich oder Basel sowie bereits im Spätmittelalter.

Entlassung der Zürcher Truppen, die im Juli 1795 zur Unterdrückung der Unruhen in Stäfa eingesetzt worden waren. Kolorierte Federzeichnung (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Entlassung der Zürcher Truppen, die im Juli 1795 zur Unterdrückung der Unruhen in Stäfa eingesetzt worden waren. Kolorierte Federzeichnung (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Nach 1789 wurden unerfüllte Forderungen wieder vorgebracht, unter anderem nach Gleichstellung (Unterwallis, Genf, Basel, Zürich), nach Wiederbelebung der ständischen Repräsentation (Fürstbistum Basel, Waadt) oder nach zum Teil vom Mittelalter an erträumter Konstituierung als selbstständiger eidgenössischer Landsgemeinderepublik (Gütlicher Vertrag 1795, Toggenburg, Werdenberg). Neu dazu kamen aufklärerische Begehren wie Studier- und Gewerbefreiheit (Stäfnerhandel) oder der Anschluss an die Französische Revolution (Raurachische Republik 1792, Veltlin 1797).

Als Konstanten spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher sozialer Konflikte erweisen sich die verschiedenen Formen von Gemeinde als Trägerschaft, die Furcht der Hauptstädte vor Partizipationsforderungen des Landes sowie als radikalste Zielsetzung die Landsgemeindeverfassung. Dagegen spielte das europäische Modell der Institutionalisierung politischer Kommunikation in Form ständischer Repräsentation selten eine Rolle. Die Bedeutung der sozialen Konflikte zeigt sich in der im europäischen Vergleich singulären Staatsbildung ohne adlige Dynastie und Absolutismus durch kommunal strukturierte, über Bündnisse liierte städtische und ländliche Republiken.

Ausgewählte soziale Konflikte des Mittelalters und der frühen Neuzeit

Jahr/ZeitraumKonfliktGebiet
1182Schwur von TorreTI
1257-1258Izzeli-Gruoba-FehdeUR
1336Brun'sche ZunftrevolutionZH
1348-1349JudenpogromeSchweiz
1380-1381Ringgenberger HandelBE
1401JudenpogromeZH, SH
1401-1429Appenzeller KriegeSchweiz
1404Siegel- und BannerhandelZG
1415-1420RaronhandelVS
1441GrüningerhandelZH
1445-1451Böser Bund im Berner OberlandBE
1467-1468WädenswilerhandelZH
1469-1471TwingherrenstreitBE
1477SaubannerzugSchweiz
1478AmstaldenhandelLU
1481Lausanner UnruhenVD
1489Rorschacher KlosterbruchSG
1489WaldmannhandelZH
1513Könizer AufstandBE
1513ZwiebelnkriegLU
1515-1516LebkuchenkriegZH
1524/1526Ilanzer ArtikelGR
1524IttingersturmTG
1525BauernkriegSchweiz
1528Oberländer ReformationsunruhenBE
1529-1531KappelerkriegeSchweiz
1550TrinkelstierkriegVS
1559-1560GlarnerhandelGL
1559-1573Pfyffer-Amlehn-VerschwörungLU
1570Heringskrieg (Rothenburger Aufstand)LU
1572FähnlilupfGR
1580-1590FiningerhandelMülhausen
1588Daux-VerschwörungVD
1591RappenkriegBL
1610GachnangerhandelTG
1620Veltliner MordGR
1641Thuner HandelBE
1646Wädenswiler AufstandZH
1651-1653BürgerunruhenLU
1653BauernkriegSchweiz
1656Erster VillmergerkriegSchweiz
1664WigoltingerhandelTG
1677-1679LandhandelSZ
1691Basler WirrenBS
1698-1712Toggenburger WirrenSG
1701-1708LandhandelSZ
1707BürgerunruhenGE
1712RebellionLU
1712Zweiter VillmergerkriegSchweiz
1713ZunftunruhenZH
1717-1729WilchingerhandelSH
1719-1721Werdenberger LandhandelSG
1728-1734Erster Harten- und LindenhandelZG
1730-1740LandestroublenJU
1732-1734LandhandelAR
1734-1736Zunftunruhen (Widerkehrischer Aufstand)ZH
1734-1738TamponnementGE
1734-1759Toggenburger WirrenSG
1749Henzi-VerschwörungBE
1755LivineraufstandTI
1760-1770Meyer-Balthasar-HandelLU
1763-1765Harten- und LindenhandelSZ
1764-1767EinsiedlerhandelSZ
1764-1768Affäre RousseauGE
1764-1768Zweiter Harten- und LindenhandelZG
1768Gaudot-AffäreNE
1777AllianzhandelZH
1780-1784Chenaux-HandelFR
1781-1784BürgerunruhenGE
1783-1784SteinerhandelSH
1784SutterhandelAI
1789Hallauer HuldigungsverweigerungSH
1790-1791Unruhen im UnterwallisVS
1794-1795StäfnerhandelZH
1795Gütlicher VertragSG
1798Helvetische RevolutionSchweiz
Ausgewählte soziale Konflikte des Mittelalters und der frühen Neuzeit -  Autor; Redaktion

Das 19. Jahrhundert

Der Zusammenbruch des Ancien Régime 1798 zog einen Prozess gesellschaftlichen Umbaus nach sich, verbunden mit der zeitweiligen oder dauerhaften Auflösung rigider Formen sozialer Kontrolle. Vom anbrechenden 19. Jahrhundert an vervielfältigten sich die sozialen Konflikte. Sie trieben die Entwicklung neuer Regulierungen voran, unter anderem der grossen politischen und rechtlichen Neuschöpfungen des 19. Jahrhunderts, die in ihren Grundzügen bis heute bestehen.

Die sozialen Konflikte des 19. Jahrhunderts liessen manifest werden, was bis dahin durch obrigkeitliches Eingreifen unterdrückt worden war. Dies galt besonders für den Gegensatz zwischen Stadt und Land, der sich im stürmischen Begehren der ländlichen Bevölkerung nach rechtlicher und politischer Gleichstellung mit den städtischen Hauptorten ausdrückte. Neben dem politischen wirkte der ökonomische Umbruch konfliktsteigernd: In den Gemeinden liessen die Aufhebung von Allmend und der Loskauf der Zehnten Spannungen zwischen besitzenden und landarmen Dorfbewohnern aufbrechen; der Fortfall zünftischer Regulierungen steigerte die Konkurrenz zwischen Etablierten und Aussenseitern innerhalb nun offenerer Gewerbe. Die heim- und fabrikindustrielle Neuorganisation der Arbeit förderte soziale Konflikte in mehreren Bereichen (Soziale Frage). Konflikte zwischen Arbeitgebern und Lohnabhängigen blieben zunächst selten, doch trafen in den heranwachsenden Fabrikdörfern infolge der wachsenden Mobilität und Durchmischung einst relativ geschlossener Bevölkerungskreise Ortsansässige vermehrt auf häufig anderskonfessionelle Fremde aus anderen Kantonen.

Die neuen Unterschichten waren diskriminiert und politisch zurückgesetzt. Sie nahmen mit eigenen Forderungen an den politisch liberalen Verfassungsbewegungen teil (z.B. Ustertag 1830) und waren, wenn sie enttäuscht wurden, bisweilen auch zum Maschinensturm bereit wie beim Usterbrand 1832. Als Ausdrucksform von sozialen Konflikten etablierte sich die an ältere Traditionen der kommunalen Versammlung anschliessende öffentliche Versammlung, mittels derer Petitionen vorgebracht oder im Extremfall Regierungen gestürzt und Kantone getrennt (Basel, vorübergehend auch Schwyz) werden konnten. In Putsch und Gegenputsch nahmen die Konflikte zum Teil gewaltsame Formen an, die vielfach an bestehende konfessionelle Feindseligkeiten anknüpften bzw. diese instrumentalisierten (unter anderem in den Freischarenzügen 1844-1845). Auch antisemitische Vorurteile brachen in sozialen Konflikten auf oder dienten diesen als Motor.

Weniger spektakulär, da lokal und in den Alltag eingebunden, waren rituell verlaufende soziale Konflikte zwischen den Generationen, zwischen Eingesessenen und Fremden, zwischen Männern und Frauen. Das Aufkommen freikirchlicher Bewegungen (Evangelische Freikirchen) vermochte in reformierten Gebieten heftige kommunale Konflikte auszulösen. Zu Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden kam es auch, weil sich die Landbevölkerung der Gewährung der allgemeinen Niederlassungsfreiheit und insbesondere der Niederlassung von Juden entgegenstellte.

Der Stellenwert der Geschlechterbeziehungen für Form und Verlauf von sozialen Konflikten ist noch wenig geklärt. Im Zeitalter der Demokratisierung schuf das Beharren der Männer auf ihrer traditionellen Vorherrschaft zahlreiche Probleme. Die rechtlichen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts, welche die bürgerliche Geschlechterordnung allgemeinverbindlich machten, unterwarfen die Frauen starken Einschränkungen, die Protest und Widerstand auslösten (u.a. gegen die erst in den 1870er Jahren definitiv aufgehobene Geschlechtsvormundschaft). Während ledige Frauen allmählich einen gewissen Handlungsspielraum gewannen, scheint sich die Stellung der Verheirateten im 19. Jahrhundert rechtlich eher verschlechtert zu haben. Bis zum Eherecht von 1988 blieben sie in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt.

Revolution der Radikalen im Tessin, 1839. Lithografie von Antonio Soldati (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona).
Revolution der Radikalen im Tessin, 1839. Lithografie von Antonio Soldati (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona). […]

Nach der Gründung des Bundesstaats kam es in den 1860er Jahren zu einer neuen Welle von sozialen Konflikten, wobei die Neigung zur Gewalt stark zurücktrat. Das sich entfaltende bürgerliche Vereinswesen griff auf immer breitere Schichten der Bevölkerung über, ermöglichte kollektives und doch diszipliniertes Handeln. Die vielfältigen Formen kommunaler Demokratie dürften ähnlich friedstiftende Wirkungen entfaltet haben. Der tumultuöse Sturz einer Regierung durch einen Volksauflauf ereignete sich ein letztes Mal im Tessiner Putsch 1890. In anderen Kantonen hatten die Institutionen der direkten Demokratie den sozialen Konflikten bereits eine Palette neuer Ausdrucksformen geschaffen, die seither die öffentlichen Auseinandersetzungen in der Schweiz prägen und dazu beitragen, die potenzielle Gewaltsamkeit der sozialen Konflikte in Grenzen zu halten.

Das 20. Jahrhundert

An der Wende zum 20. Jahrhundert gewannen soziale Konflikte eine neue Dynamik. Dies hing mit der Bevölkerungsumschichtung durch die rapide Urbanisierung, mit der Agrarkrise und den ländlichen Protesten (Bauernbünde der 1890er Jahre), dem zunehmend organisierten Aufbruch der katholischen Minderheit und der sozialistischen Bewegung zusammen. Die heftigste Form von sozialen Konflikten im liberal-bürgerlichen Verfassungsstaat stellten die industriellen Konflikte dar (Arbeiterbewegung, Streiks), die erst Ende der 1940er Jahre erfolgreich eingedämmt werden konnten. Die integrierende Kraft demokratischer Prozesse erwies sich in diesem Fall als begrenzt wirksam, da es nicht um Fragen der politischen Partizipation, sondern um die Arbeitsverhältnisse lohnabhängiger Schichten ging. Die Arbeitskonflikte steigerten sich über den zeitlich und örtlich begrenzten Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Einzelbetrieb zu heftigen, auch politisch ausgetragenen Konflikten, die als Generalstreik ganze Gemeinden lahmlegten und häufig zum Einsatz von Polizei und Militär führten. Als tiefgreifende Klassenkonflikte erfuhren sie ihren Höhepunkt vor und nach dem Landesstreik vom November 1918. Längerfristig trugen soziale Konflikte zur Integration der Arbeiter in den Bundesstaat bei, die ihrerseits in kollektivem Arbeitsrecht und politischer Partizipation (Vernehmlassung, Konkordanz) ihren institutionalisierten Ausdruck fand.

Demonstration auf dem Schulhausplatz von Reinach (AG) während der Tabakkrise. Fotografie von Hans Staub, 1937 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.
Demonstration auf dem Schulhausplatz von Reinach (AG) während der Tabakkrise. Fotografie von Hans Staub, 1937 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz. […]

Weit weniger zügig verlief die politische Integration der weiblichen Bevölkerung, was mit deren geringem Organisationsgrad zusammenhängen dürfte. Die Auseinandersetzung um die Stellung der Frauen blieb lange Zeit meist latent oder wurde innerfamiliär ausgetragen. Ab 1900 trugen die Frauen ihre Forderungen in organisierten Gruppen vor, vermochten jedoch keine dem Klassenkonflikt vergleichbare Breitenwirkung zu entfalten (Frauenbewegung).

Letzteres zeigt, dass soziale Konflikte erst dann öffentlich Wirkung zeigen, wenn Wünsche und Forderungen sich in organisierter Form manifestieren. Nicht jedes Anliegen erweist sich in gleicher Weise als organisierbar, sodass soziale Konflikte latent bleiben können bzw. individuell verarbeitet werden müssen. Kriminalität, innerfamiliäre Gewalt und andere soziale Probleme können damit zusammenhängen. Wo hingegen der Konflikt aufbricht, kann er zum Motor des sozialen Wandels werden. Manches weist darauf hin, dass die Entwicklung in diesem Fall über ungeregelte Formen des Protests zur Regelung, Verrechtlichung und sozialen Integration führt und damit andere Verhältnisse schafft. Es handelt sich dabei um einen Prozess, in dem Integration und Befriedung nie von unbegrenzter Dauer sein können.

Im Lauf der 1960er Jahre kam es wieder zu heftigeren sozialen Konflikten. Das Abklingen des Klassenkonflikts liess ältere, lange überlagerte Gegensätze zwischen Einheimischen und Fremden wieder hervortreten (Fremdenfeindlichkeit). Der bis dahin wenig virulente Jurakonflikt gewann erst mit der Ethnisierung in den 1960er Jahren seine polarisierende Dynamik (Berner Jura). Die fremdenfeindlichen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre, die seither sporadisch aufflackern, entzündeten sich unter anderem am ethnisch-kulturellen Gegensatz zwischen Eingesessenen und Zuwanderern. Ebenfalls um kulturelle Fragen ging es in der Etablierung neuer Muster von Massenkonsum und populärer Freizeit, die immer wieder Forderungen nach erzieherischer Intervention auslösten, während auf der Gegenseite das (vor allem jugendliche) Begehren nach eigenen Freiräumen stand (Jugendbewegungen).

Die Welle der sozialen Konflikte in den späten 1960er und den 1970er Jahren wurde von der Soziologie unter dem Titel "Neue soziale Bewegungen" erfasst. Diese ähnelten sich trotz hoher Diversität der Beteiligten und der Ziele (Jugendbewegungen, Ökologische Bewegung, Antimilitarismus, Pazifismus, Frauenbewegung) in ihrem öffentlichkeitswirksamen Auftritt. Nach einer Phase provozierend unkonventioneller Aktivität passten sich diese Bewegungen vielfach in das politische Spiel der Kräfte ein, machten von den Instrumenten der direkten Demokratie Gebrauch und hielten ihre Anliegen auf diese Weise im Gespräch. Die Konfliktfreudigkeit ist im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts gestiegen. Hoch ist jedoch nach wie vor der Anteil der latenten Konflikte. Die weltweit in den Spitzenrängen liegenden schweizerischen Werte für Suchtanfälligkeit (Drogen) und Selbstmord verweisen auf Konflikte, die durch rigide innere und äussere Kontrollen zurückgedrängt werden.

Im Mai 1976 besetzte das sogenannte Frauenzentrum ein leer stehendes Gebäude im Quartier Les Grottes in Genf (Interfoto, Genf).
Im Mai 1976 besetzte das sogenannte Frauenzentrum ein leer stehendes Gebäude im Quartier Les Grottes in Genf (Interfoto, Genf).

Quellen und Literatur

Allgemein
  • Traverse, 2001, H. 3
Mittelalter und frühe Neuzeit
  • P. Felder, «Ansätze zu einer Typologie der polit. Unruhen im schweiz. Ancien Régime», in SZG 26, 1976, 324-389
  • Peyer, Verfassung (v.a. 139-141, Liste vieler Unruhen)
  • P. Bierbrauer, «Bäuerl. Revolten im Alten Reich», in Aufruhr und Empörung?, hg. von P. Blickle et al., 1980, 1-68
  • Braun, Ancien Régime, 256-313
  • A. Suter, "Troublen" im Fürstbistum Basel (1726-1740), 1985
  • F. Graus, Pest - Geissler - Judenmorde, 1987
  • P. Blickle, Unruhen in der ständ. Gesellschaft 1300-1800, 1988
  • K. Simon-Muscheid, Basler Handwerkszünfte im SpätMA, 1988
  • P. Blickle, «Friede und Verfassung», in Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft 1, 1990, 13-202
  • P. Bierbrauer, Freiheit und Gem. im Berner Oberland 1300-1700, 1991
  • U. Pfister, «Polit. Klientelismus in der frühneuzeitl. Schweiz», in SZG 42, 1992, 28-68
  • L. Wiedmer, Pain quotidien et pain de disette, 1993
  • L. Mottu-Weber, «"Tumultes", "complots" et "monopoles"», in Des archives à la mémoire, hg. von B. Roth-Lochner et al., 1995, 235-256
  • A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit, 1995
  • N. Landolt, Untertanenrevolten und Widerstand auf der Basler Landschaft im 16. und 17. Jh., 1996
  • A. Suter, Der schweiz. Bauernkrieg von 1653, 1997
  • M. Ostorero, «La sorcellerie dans l'arc alpin (XVe-XVIIe siècles)», in AST 125, 1999, 39-52
  • A. Würgler, «Diffamierung und Kriminalisierung von "Devianz" in frühneuzeitl. Konflikten», in Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, hg. von M. Häberlein, 1999, 317-347
  • R.C. Head, Demokratie im frühneuzeitl. Graubünden, 2001 (engl. 1995)
  • S. Guzzi-Heeb, «Ribelli innovativi. Conflitti sociali nella Confederazione svizzera (XVII-XVIII secolo)», in Studi storici 48, 2007, 383-408
19. und 20. Jahrhundert
  • H. Beck, Der Kulturzusammenstoss zwischen Stadt und Land in einer Vorortsgem., 1952
  • H. Kriesi et al., Polit. Aktivierung in der Schweiz 1945-1978, 1981
  • R. Levy, L. Duvanel, Politik von unten, 1984
  • Gruner, Arbeiterschaft
  • A. Ryter, Als Weibsbild bevogtet, 1994
  • R. Gerber Jenni, Die Emanzipation der mehrjährigen Frauenzimmer, 1997
  • M. Hettling et al., Eine kleine Gesch. der Schweiz, 1998
  • M. König et al., Dynamisierung und Umbau, 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Mario König; Andreas Würgler: "Soziale Konflikte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025757/2013-01-08/, konsultiert am 18.04.2024.