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Gemeiner Nutzen

Der G. ist ein in der Antike entwickelter, im MA und in der frühen Neuzeit breit rezipierter Grundbegriff, in dem sich Ethik, Politik und Recht verschränken (auch Gemeinwohl; lat. bonum commune, utilitas publica). In der Staatstheorie bezeichnete der G. das Ziel guter Politik und gerechter Herrschaft, den Gemeinschaftszweck schlechthin. Im Kontext der christl. Morallehre stellte er als Regulativ für individuelles Wohlverhalten eine herausragende sozialethische Norm dar; mit dem Gegenbegriff des Eigennutzes charakterisierte die ständ. Gesellschaft negatives Sozialverhalten. Im Staatsdenken verkörperte die jeweilige polit. Autorität den Willen und die Verpflichtung zum G., der herrschaftl. Handeln im Dienst des öffentl. Interesses - selbst auf Kosten privaten und lokalen Rechts - legitimierte, dieses gleichzeitig aber auch limitierte. Im 13. und 14. Jh. nahmen die Stadtgemeinden den Begriff auf. Von der kaiserl. Kanzlei wurde er besonders unter den Luxemburger Kaisern rezipiert. Im Zusammenhang der ständ., föderalen und kommunalen Bewegungen des SpätMA erschien nicht mehr der Herrscher allein als Interpretator und Subjekt des G.s. Im Selbstverständnis und in der Praxis der Stände, Bünde und Kommunen wird die communitas seit dem 13. Jh. zunehmend zum Subjekt des G.s, wodurch dessen ursprüngl. Akzentuierung des gemeinschaftl. Wohls politisiert und konkretisiert wurde. In spätma. Städten, Einungen und Bündnissen war der G. eng mit dem Gedanken des Stadt- und Landfriedens gekoppelt. Seit dem 15. Jh. diente das Konzept des G.s als umfassende Begründung für die gesamte Innenpolitik der Städte und Territorien.

In der Eidgenossenschaft legitimierte sich die polit. Ordnung stark durch den G. In Bundesbriefen, Stadt- und Landrechten ist der Begriff verbreitet. Im Unterschied zu den Fürstentümern beruhte selbst der Eid auf dem G. Als Kriterium zur Qualifizierung staatl. Handelns diente er auch den nicht zur Herrschaft befähigten Schichten; so prägte der G. die Legitimation und Rhetorik des sozialreformerischen und -revolutionären Protests von Bürgern und Bauern. In der Gesetzgebung der frühneuzeitl. Obrigkeiten figurierte er als Leitmotiv und Regulativ für die staatl. Ordnungsbemühungen im Dienste einer "guten Polizei" (Absolutismus). Eine vollständige Neukonzeption des Verhältnisses zwischen Eigennutz und G., v.a. im wirtschaftl. Bereich, brachte der Liberalismus.

Quellen und Literatur

  • P. Hibst, Utilitas publica - gemeiner Nutz - Gemeinwohl, 1991, (mit Bibl.)
  • Gemeinwohl und Gemeinsinn, hg. von H. Münkler et al., 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

André Holenstein: "Gemeiner Nutzen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.11.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025979/2006-11-23/, konsultiert am 28.03.2024.