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Merkantilismus

Merkantilismus – in Deutschland als Kameralismus bekannt – bezeichnet einerseits die Wirtschaftstheorie, andererseits die Wirtschaftspolitik vor allem der fürstlichen Staaten in der frühen Neuzeit zwischen ca. 1600 und 1750. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wird der Begriff Merkantilismus (und auch jener des Neomerkantilismus) für jegliche protektionistische Wirtschaftspolitik verwendet.

Als Blütezeit des Merkantilismus gilt das 17. Jahrhundert. Der Begriff geht auf Adam Smith zurück, der in der Aufklärungszeit rückblickend abschätzig vom «merkantilen System» sprach. Er bemängelte, dass man im Merkantilismus die Produktion und Anhäufung von Edelmetallen als Selbstzweck sah. Statt den Interessen der Gesellschaft und der ganzen Menschheit zu dienen, sei der Merkantilismus nur auf die Zweckdienlichkeit für den Staat ausgerichtet. Der Merkantilismus war jedoch keine in sich geschlossene Theorie, sondern bestand aus einer kaum überschaubaren Vielfalt von praktischen Rezepten und Empfehlungen. Bedeutende Vertreter des merkantilistischen Denkens waren in Frankreich Jean-Baptiste Colbert, dessen wirtschaftspolitische Bestrebungen auch als Colbertismus bekannt sind, in England Thomas Mun und in Deutschland Johann Joachim Becher. Der deutsche Kameralismus bezog sich umfassender als der Merkantilismus nicht nur auf die Ökonomie, sondern auch auf die Verwaltung und Rechtsprechung des Staats.

Zu den Charakteristika des Merkantilismus, der eng mit dem absolutistischen Herrschaftsprinzip verbunden war (Absolutismus), zählt die Vorstellung, dass die Menge des Reichtums in der ganzen Welt konstant sei. Das Ziel der Handelspolitik einer Nation bestünde folglich darin, sich den grösstmöglichen Anteil an demselben zu sichern. Der Handel sei – so eine Metapher in der ökonomischen Literatur der Epoche – das grosse Rad, das die ganze soziale Maschine antreibe. Die Grundannahme lautete, dass die Wirtschaft unterbeschäftigt sei und entwickelt werden müsse, dass jedoch die zum Vorteil des eigenen Landes zu nutzenden Rohstoffe begrenzt seien. Deswegen müsse der Aussenhandel durch den Export von Fertigwaren gefördert und die Geldmenge vermehrt werden, während Importe mittels Verboten und Zollschranken möglichst auf die notwendigen Rohstoffe zu beschränken seien. Als oberstes Gebot galt eine aktive Handelsbilanz, wobei die öffentlichen Finanzen mit dem staatlichen Wohl gleichgesetzt wurden. Der Merkantilismus, gleichsam eine Art ökonomischer Nationalismus, erhielt je nach Staat eine eigene Färbung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Merkantilismus von physiokratischen Modellen (Physiokratie) und Konzepten des Freihandels und des Liberalismus abgelöst, die mit der Industrialisierung aufkamen. In theoretischer Hinsicht waren die Merkantilisten Vorläufer von François Quesnay, Richard Cantillon, David Hume und Anne Robert Jacques Turgot, aber auch von Adam Smith als Begründer der ökonomischen Klassik.

Von einem eigentlichen eidgenössischen Merkantilismus kann nicht gesprochen werden, weil sich auf schweizerischem Gebiet eine nationale wirtschaftliche Integration, die sich etwa in der Kooperation von Genfer und Zürcher Unternehmern anbahnte, erst im Laufe des 18. Jahrhunderts herausbildete (allerdings stellte das von der Tagsatzung Mitte des 17. Jahrhunderts erlassene Einfuhr- und Konsumverbot für Tabak durchaus eine typisch merkantilistische Massnahme dar). Die Wirtschaftspolitik einzelner Orte weist dagegen einige merkantilistische Züge auf. Dazu zählen eine protektionistische Wirtschaftsauffassung, die Ausweitung der lokalen oder städtischen zu einer territorialen Wirtschaft und das Bestreben, eine aktive Handels- und Zahlungsbilanz vorzuweisen. Zu diesem Zweck wurde häufig das Exportgewerbe staatlich gefördert. Umgekehrt ist zum Beispiel in den Kleider- und Aufwandsordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts eine wirtschaftspolitisch motivierte Drosselung des Imports festzustellen. Wegen der engen Verflechtung mit der französischen Wirtschaft litt die ökonomische Entwicklung aber in einzelnen Orten auch unter dem Merkantilismus; im 17. Jahrhundert wirkten sich die protektionistischen Massnahmen Frankreichs, des besten Kunden der Eidgenossenschaft, und Österreichs negativ aus. Die fehlende wirtschaftliche Kooperation und die Politik der Zunftstädte, die unternehmerische Ansätze bremste, verhinderten eine angemessene Reaktion der Eidgenossenschaft auf die merkantilistische Politik der Nachbarstaaten.

Verordnung zur Förderung der Manufakturen, 10. Juli 1695, Titelseite (Staatsarchiv Bern, Gedruckte Mandate, Bd. 18, Nr. 9).
Verordnung zur Förderung der Manufakturen, 10. Juli 1695, Titelseite (Staatsarchiv Bern, Gedruckte Mandate, Bd. 18, Nr. 9). […]

Der Merkantilismus vermochte sich in einzelnen patrizischen Orten bis zu einem gewissen Grad durchzusetzen. Am ehesten merkantilistisch zu nennen ist die Wirtschaftspolitik der Stadt Bern, in der die Zünfte politisch keine tragende Rolle spielten. Die Berner Regierung versuchte, auf ihrem Territorium jeglichen Müssiggang zu verhindern, und setzte sich ab den 1680er Jahren für Handel und Industrie ein. 1687 richtete sie nach französischem Vorbild einen «Kommerzienrat» ein. Dieser wurde beispielsweise im Oberaargau tätig und liess dort einen staatlich geförderten und beaufsichtigten Handel zum Nutzen der Berner Republik betreiben. Da die Zünfte das Gewerbe auf dem Land nicht wie in Genf, Zürich oder Basel verboten, gelang die allmähliche Umwandlung der Stadt- in eine Territorialwirtschaft. Weiter gründete die Berner Obrigkeit Zucht- und Waisenhäuser, erteilte Fabrikationsprivilegien, erliess 1719 ein Manufakturmandat, schuf ein Handelsgericht und realisierte ein umfangreiches Strassenbauprogramm. Auch die Berner Ökonomische Gesellschaft war anfangs merkantilistisch eingestellt. Merkantilistische Bestrebungen sind ebenfalls in Luzern nachweisbar, dessen Regierung eine Kommerzienkammer einrichtete, Privilegien erliess, die Florettseidenindustrie einführte und die Zollstellen vervielfachte. Auch in Neuenburg und im Fürstbistum Basel sind zumindest Ansätze einer merkantilistischen Politik zu beobachten.

In den Zunftregimenten hingegen erlangten die merkantilistischen Grundsätze weniger Geltung. In Zürich, Schaffhausen, Basel und St. Gallen herrschten stadtwirtschaftliche Prinzipien und zünftige Interessen vor, welche die Gewerbebildung auf dem Land zu verhindern suchten. Allerdings erinnern Massnahmen Zürichs zur Förderung und zum Schutz der Fabriques im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts an Colberts Politik (Protoindustrialisierung), und auch die Genfer Zünfte versuchten, Zollschranken zu errichten. In den Landkantonen schliesslich gab es kaum staatliche Regulierung. Hier war die Handelsfreiheit, also die Unabhängigkeit von der obrigkeitlichen Wirtschaftspolitik, welche die meisten Orte der Eidgenossenschaft auszeichnete, besonders ausgeprägt.

Das vergleichsweise geringe Ausmass, in dem sich der Merkantilismus durchsetzte, war eine der Ursachen für die Entwicklung der Eidgenossenschaft zu der am stärksten industrialisierten Nation auf dem europäischen Kontinent, die Ende des 18. Jahrhunderts gar mit Englands Wirtschaft konkurrieren konnte. Damals arbeiteten gemäss Schätzungen bereits ca. 12% der Gesamtbevölkerung der eidgenössischen Kantone in der Industrie. Die industrielle Entwicklung fand auf dem Land und im Voralpengebiet und im Jura statt; die Übernahme neuer Exportindustrien und neuer, kapitalintensiver Betriebsformen trieb sie weiter voran. Infolge der oben umrissenen, anfangs primär moralphilosophisch argumentierenden Kritik der Aufklärung galt die merkantilistische Konzeption jetzt in ganz Europa als überholt.

Quellen und Literatur

  • W. Bodmer, «Tendenzen der Wirtschaftspolitik der eidg. Orte im Zeitalter des Merkantilismus», in SZG 1, 1951, 562-598
  • J.R. Meyer, «Der Merkantilismus im Oberaargau», in BZGH 21, 1959, 106-114
  • H.R. Rytz, Geistliche des alten Bern zwischen Merkantilismus und Physiokratie, 1971
  • HRG 3, 488-494
  • B.M. Biucchi, «Die industrielle Revolution in der Schweiz 1700-1850», in Europ. Wirtschaftsgesch. 4, hg. von C.M. Cipolla, K. Borchardt, 1985, 43-61
  • A.-M. Piuz, L. Mottu-Weber, L'économie genevoise, de la Réforme à la fin de l'Ancien Régime, 1990
  • J.-F. Bergier, Die Wirtschaftsgesch. der Schweiz, 21990, v.a. 154-168
  • R. Gömmel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus, 1620-1800, 1998
  • I. Wallerstein, Das moderne Weltsystem 2: Der Merkantilismus, 1998 (engl. 1980)
Weblinks

Zitiervorschlag

Urs Hafner: "Merkantilismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.11.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026191/2010-11-11/, konsultiert am 28.03.2024.