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Bürgergemeinde

Bürgergemeinden sind öffentlich-rechtliche Personalkörperschaften, deren Angehörige das gleiche Ortsbürgerrecht besitzen. Die Bürgergemeinden verwalten in der Regel das Bürgergut, sofern diese Aufgabe nicht Korporationen, sogenannten Korporationsgemeinden oder anderen Körperschaften zugewiesen ist. Die Bürgergemeinden sind zu unterscheiden von den Einwohnergemeinden (Gemeinde) und den Kirchgemeinden, die in den gleichen Orten ebenfalls bestehen können. Für die Bürgergemeinden sind in den einzelnen Kantonen verschiedene Bezeichnungen gebräuchlich, so zum Beispiel bourgeoisie (im Unterwallis und in Freiburg), commune bourgeoise im Jura, Burgergemeinde (Bern, Oberwallis), Ortsbürgergemeinde (Uri, Aargau), Ortsgemeinde (St. Gallen, Thurgau), vischnanca burgaisa (Graubünden) oder Tagwen (Glarus). Im Tessin werden die Bürgergemeinden als patriziati bezeichnet; diese entstanden aus den sogenannten vicinanze (Nachbarschaft) und sind deren Rechtsnachfolger. In den Kantonen Genf, Neuenburg, Nidwalden, Schwyz und Waadt existieren keine Bürgergemeinden. Im Berner Jura und im Kanton Jura gibt es eine Mischform zwischen Einwohner- und Bürgergemeinde (Gemischte Gemeinde).

Das Grosse Spital von Bern. Kupferstich von Johann Ludwig Nöhtiger nach einer Zeichnung von Emanuel Gruber, 1742 (Burgerbibliothek Bern).
Das Grosse Spital von Bern. Kupferstich von Johann Ludwig Nöhtiger nach einer Zeichnung von Emanuel Gruber, 1742 (Burgerbibliothek Bern). […]

Die verschiedenen Typen der Bürgergemeinde weisen grosse Unterschiede hinsichtlich Organisationsgrad, Befugnissen und Tätigkeiten auf: Während vielerorts die Ausführungsaufgaben an die politischen Gemeinden übertragen worden sind, so dass die Bürgerversammlung (Gemeindeversammlungen) oft das einzige Organ der Bürgergemeinde darstellt, üben die Bürgergemeinden vor allem in den Städten das Recht auf Selbstverwaltung aus und haben ein eigenes Exekutivorgan. In Basel und Bern verfügen die Bürgergemeinden sogar über ein Parlament. In einigen Kantonen obliegt den Bürgergemeinden noch heute die Erteilung des Gemeindebürgerrechts, ohne das der Erwerb des Schweizer Bürgerrechts unmöglich ist. Ausserdem sind die Bürgergemeinden vielerorts im sozialen Bereich tätig. Sie führen Spitäler, Alters- und Jugendheime, vergeben Stipendien und unterstützen arbeitslose, behinderte und suchtkranke Menschen. Einige Bürgergemeinden erbringen auch Leistungen auf kulturellem Gebiet, sie unterhalten zum Beispiel Bibliotheken und Museen. Zur Bestreitung dieser Aufgaben beziehen die Bürgergemeinden teilweise Steuern oder verwenden die Zinsen ihres Vermögens.

Die Anfänge des modernen Gemeindewesens reichen bis in die Helvetische Republik zurück. Die Schaffung des einheitlichen Schweizer Bürgerrechts für die Bürger der Alten Orte und deren Hintersassen und Untertanen führte zu Konflikten, weil die begüterten Dorfgenossen und Stadtbürger ihre Rechte an Wald, Allmende und anderen Gemeindegütern nicht mit den «Neubürgern» – bei diesen handelt es sich um die meist ärmeren Inhaber des Heimatrechts in der gleichen Gemeinde – teilen wollten. Die Kompromisslösung, welche in den Gemeindegesetzen der Helvetik getroffen wurde, gilt bis heute: Die sogenannte Einwohnergemeinde, die als politische Gemeinde den Wahl- und Abstimmungskörper bildet, besteht aus allen niedergelassenen Bürgern; die Nutzung des Gemeindeguts blieb aber den alteingesessenen Ortsbürgern vorbehalten, die in der Bürgergemeinde zusammengefasst wurden. Während der Mediation und besonders der Restauration kam in vielen Kantonen wieder das bürgerliche Prinzip zum Tragen, d.h. die Einwohnergemeinden wurden abgeschafft und die Ausübung der politischen Rechte auf die Angehörigen der Bürgergemeinden beschränkt. In der Regeneration verhalf der liberale Umschwung dem Einwohnerprinzip in einigen Kantonen erneut zum Durchbruch. In anderen Kantonen vermochten sich die Bürgergemeinden noch lange als politische Gemeinden zu behaupten. Selbst in der Stadt Zürich liess erst das Gemeindegesetz von 1866 die Einwohnergemeinde wieder aufleben.

Im Verhältnis zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde spielten die Gemeindegüter eine grosse Rolle. Lag deren Verwaltung allein bei der Bürgergemeinde, so war die Einwohnergemeinde von dieser abhängig. Den Einwohnergemeinden brachte erst eine Aufteilung des Gemeindevermögens in rein bürgerliche Güter und solche, die der Öffentlichkeit dienen, die volle Selbstständigkeit. In der Stadt Bern zum Beispiel erhielt die Einwohnergemeinde erst nach der Vermögensteilung von 1852 das Recht, Steuern zu erheben.

In der Bundesverfassung von 1874 wurden schliesslich allen in einer Gemeinde niedergelassenen Schweizerbürgern die politischen Rechte auch auf kommunaler und kantonaler Ebene gewährt. Damit verlor die Bürgergemeinde überall die Funktion als politischer Abstimmungs- und Wahlkörper. Weil ausserdem in den Städten der Anteil der Ortsbürger an der Gesamtbevölkerung als Folge der demografischen Entwicklung immer mehr abnahm, büssten die Bürgergemeinden ihre frühere Bedeutung weitgehend ein. Trotzdem wurde die Institution der Bürgergemeinde aber nicht grundlegend in Frage gestellt. Dies dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass die Bürgergemeinden auch weiterhin die Kosten für die Armenfürsorge, die ihnen schon im 16. Jahrhundert aufgebürdet worden waren (Fürsorge), aus dem Bürgergut bestritten. Im 20. Jahrhundert übernahm nach und nach der Staat das Sozialwesen; das Engagement der Bürgergemeinden in diesem Bereich beruht heute auf freiwilliger Basis. In einigen wenigen Orten, wie zum Beispiel in der Stadt Luzern, wurden in jüngster Zeit die Zusammenlegung der Bürgergemeinde und der Einwohnergemeinde eingeleitet.

Quellen und Literatur

  • P. Caroni, Le origini del dualismo comunale svizzero, 1964
  • M. Fürstenberger, Bewahren Helfen Fördern: 100 Jahre Bürgergemeinde Basel, 1976
  • K. Buchmann, Die Bürgergemeinde ― Idee und Wirklichkeit, 1977
  • T. Julen, Das Burgerrecht im Oberwallis, 1978
  • T. von Erlach et al., Die Burgergem. Bern, 1986
  • L. Carlen, Die Bürgergemeinde in der Schweiz, 1988
  • J. Dubas, Histoire de la bourgeoisie de Fribourg, 1992
  • B. Sieber, Bürgergemeinde und Einwohnergem. der Stadt Luzern, Liz. Zürich, 1996
Von der Redakton ergänzt
  • Bundi, Simon: Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Eine Bündner Abgrenzungsgeschichte 1874–1974, 2016.
Weblinks

Zitiervorschlag

Basil Sieber: "Bürgergemeinde", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.02.2005. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026443/2005-02-16/, konsultiert am 19.03.2024.