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Völkerbund

Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs bestärkten pazifistische Kreise (Pazifismus) und Regierungen in ihrem Vorhaben, für die Nachkriegszeit eine neue Weltordnung zu schaffen. In seinem 14-Punkte-Programm für den Frieden vom 18. Januar 1918 sah der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Woodrow Wilson, unter Punkt 14 die Gründung eines «Verbands der Staaten» vor. Sein Vorschlag löste viele Projekte aus. Der Bundesrat beauftragte das Politische Departement am 4. Mai desselben Jahres mit der Einsetzung einer Kommission, welche die Neuregelung des Völkerrechts und die Beteiligung der Schweiz an einem Völkerbund prüfen sollte. Auf der Grundlage eines Berichts, den der Jurist Max Huber verfasst hatte, arbeitete die Kommission im Januar 1919 einen eigenen Entwurf für einen zukünftigen Völkerbundspakt aus.

Als neutraler Staat wurde die Schweiz nicht nach Paris an die Friedenskonferenz eingeladen. Sie gab daher wie andere neutrale Staaten ihrem Interesse Ausdruck, zu den sie betreffenden Fragen Stellung zu beziehen. Am 11. Februar 1919 überreichte sie den Siegermächten ein Memorandum zur Neutralität der Schweiz und legte ihren Bündnisentwurf bei. Am 20. März wurden 13 neutrale Staaten nach Paris einberufen. Die Schweizer Delegation musste feststellen, dass ihre Vorschläge zum Teil von anderen aufgenommen, zum Teil unberücksichtigt blieben. Am 28. April verabschiedete die Friedenskonferenz ihren eigenen Text, der Teil des am 28. Juni 1919 unterzeichneten Vertrags von Versailles war.

Plakat zur Abstimmung über den Bundesbeschluss betreffend den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund vom 16. Mai 1920, von Emil Cardinaux (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Plakat zur Abstimmung über den Bundesbeschluss betreffend den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund vom 16. Mai 1920, von Emil Cardinaux (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Für die Schweiz stellte sich die Frage, welche Konsequenzen ein Beitritt zum Völkerbund bzw. ein Abseitsstehen für ihre Neutralität und ihre Wirtschaftsbeziehungen haben würde. Dazu äusserte sich der Bundesrat in seiner Botschaft vom 4. August 1919. Er sprach sich für einen Beitritt aus und beschloss, den Entscheid Volk und Ständen zur Abstimmung vorzulegen. Dieser Schritt bedeutete einen Meilenstein für die Erweiterung der direkten Demokratie auf das Feld der internationalen Beziehungen des Landes. Am 21. November stimmten National- und Ständerat dem Vorschlag der Regierung unter der Bedingung einer vorgängigen Ratifizierung durch die fünf ständigen Mitglieder des Völkerbundsrats zu. Diese Vorbedingung trug den Widerständen Rechnung, auf die Wilson in den Vereinigten Staaten bei der Umsetzung seines Projekts stiess. Mit der sogenannten Amerikaklausel drohte aber die Sistierung des Beitrittsprozesses. Auf die schleppende Ratifizierung in der Schweiz reagierte der oberste Alliiertenrat am 2. Januar 1920 mit einer Note zuhanden der Schweiz, in der er vor allem ihre Neutralitätsbedenken infrage stellte. Es drängten sich Verhandlungen auf, wollte die Schweiz ihren Status als Gründungsmitglied des Völkerbunds behalten und den Souverän darüber abstimmen lassen. In der aus diesen Gesprächen resultierenden Londoner Erklärung vom 13. Februar 1920 anerkannten die Grossmächte ausdrücklich die Schweizer Neutralität und entbanden das Land von der Teilnahme an militärischen Sanktionen. Dank der in der Erklärung begründeten «differentiellen» Neutralität durfte der Bundesrat auf die Zustimmung des Volks hoffen. An einer ausserordentlichen Sitzung hoben die beiden Parlamentskammern am 5. März die Amerikaklausel auf und öffneten damit den Weg für die Volksabstimmung vom 16. Mai. Ohne grossen Enthusiasmus hiess das Stimmvolk den Beitritt zum Völkerbund mit 416'870 Ja- gegen 323'719 Neinstimmen bei einem knappen Ständemehr von 11½ zu 10½ Ständen gut. Die Stimmbeteiligung lag bei 77,5%.

Als Vollmitglied des Völkerbunds verschaffte sich die Schweiz rasch eine privilegierte Stellung, weil das von Wilson bevorzugte Genf sich nach anfänglichen Schwierigkeiten gegen Brüssel durchsetzte und zum Sitz der Organisation wurde. Die erste Vollversammlung des Völkerbunds im November 1920 verhalf Genf und der Eidgenossenschaft zu grosser Ausstrahlung. Vor allem Giuseppe Motta als Vorsteher des Politischen Departements und Professor William Emmanuel Rappard taten sich hervor, aber auch andere Schweizer im Sekretariat und in den Kommissionen des Völkerbunds konnten sich profilieren. Da der Bundesrat fest entschlossen war, seinen besonderen Neutralitätsstatus zu wahren, verzichtete er am 13. Dezember 1920 explizit auf einen Sitz im Völkerbundsrat (Internationale Organisationen, Aussenpolitik). Trotzdem löste die Frage der Neutralität bald eine Krise aus. Im Zusammenhang mit dem Konflikt um Wilna 1920 hatte Motta den Transit von Truppen von Mitgliedstaaten des Völkerbunds durch die Schweiz vorerst gestattet, musste aber nach einem Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit zurückkrebsen. Er konnte den Völkerbund schliesslich davon überzeugen, auf seine Anfrage zu verzichten.

Von diesem Zeitpunkt an übte die Schweizer Diplomatie gegenüber den Initiativen des Völkerbunds grosse Zurückhaltung, so im Zusammenhang mit den internationalen Konferenzen von Barcelona (1921, Verkehr), von Genua (1922, Wiederaufbau der Weltwirtschaft), von Genf (ab 1927, Abbau von Handelshemmnissen; ab 1929, Bekämpfung der Wirtschaftskrise) und von London (1933, Wirtschaft und Währung). Die Schweiz gab sich gegenüber dieser aufkommenden multilateralen Diplomatie sehr reserviert und bevorzugte zur Wahrung ihrer Interessen den bewährten Weg bilateraler Verhandlungen. Auch bei der Sanierung der österreichischen Staatsfinanzen 1922 agierte sie vorsichtig. Zwar gewährte die Schweiz Österreich einen Direktkredit, beteiligte sich aber nicht an der Völkerbundanleihe. Sie wollte sich nicht in einer Gruppe deutschfeindlicher Staaten exponieren. Die Schweizer Nationalbank übernahm jedoch die technische Abwicklung des vom Völkerbund eingeleiteten Finanzierungsprogramms.

Als im September 1929 in Genf der Briand-Plan für eine europäische Union lanciert wurde, bekundete Motta für das ehrgeizige Projekt Interesse. In seiner Stellungnahme 1930 äusserte der Gesamtbundesrat dann allerdings Vorbehalte, vor allem die Befürchtung, eine neue regionale Organisation würde den universalen Anspruch des Völkerbunds in Frage stellen. Auch andere Völkerbundsdelegationen brachten diesen Einwand vor.

Wegen der Weltwirtschaftskrise und deren politischen und sozialen Auswirkungen ging die Schweiz zu den Aktivitäten des Völkerbunds immer mehr auf Distanz. Die Austritte von Japan, Deutschland und Italien aus dem Völkerbund verstärkten die Zurückhaltung. Im September 1934 sprach sich der Bundesrat gegen die Mitgliedschaft der Sowjetunion im Völkerbund aus. Mottas dezidierte Rede zog die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf sich und stiess sowohl auf Zustimmung als auch auf Kritik. Mit Erstaunen nahm man die klaren Worte eines Staatsmanns zur Kenntnis, dessen Land für seine Neutralität und vorsichtigen Stellungnahmen bekannt war.

Die sich verschärfende politische Weltlage bewog den Bundesrat, den Völkerbundsrat im April 1938 um die Anerkennung der «traditionellen Neutralität» der Schweiz zu ersuchen. Nur so konnte sich die Schweiz von der Pflicht zu Wirtschaftssanktionen befreien. Nach einer intensiven Debatte anerkannte der Völkerbundsrat in einer Resolution vom 14. Mai die «integrale Neutralität» der Schweiz. Im September 1939 reagierte der Bundesrat auf die Verschiebung der jährlichen Vollversammlung des Völkerbunds mit Erleichterung. An der schliesslich im Dezember stattfindenden Vollversammlung war nicht der deutsche Einfall in Polen, sondern nur der Winterkrieg zwischen Finnland und der Sowjetunion traktandiert worden. Der sowjetische Angriff wurde verurteilt und die Sowjetunion aus dem Völkerbund ausgeschlossen, wobei sich die Schweizer Delegation der Stimme enthielt.

Nach Kriegsausbruch sah die Schweiz in den Aktivitäten in Genf eine Belastung für ihre Neutralitätspolitik. Der Bundesrat erreichte die Unterstellung des Senders Radio-Nations unter Schweizer Aufsicht und kündete im Januar 1940 den Vertrag aus dem Jahr 1930 auf den Februar 1942. Weitere Schritte wie die Weigerung, ab 1941 den jährlichen Mitgliederbeitrag zu bezahlen oder für die Heizkosten des Völkerbundspalastes aufzukommen, dokumentieren, wie sehr die Schweiz jedes aussenpolitische Risiko scheute.

1945 nahm das Sekretariat des Völkerbunds seine Arbeit zum Teil wieder auf. Seine Hauptaufgabe bestand in der Überführung des Völkerbunds in die Vereinten Nationen (UNO). Dabei spielte die Schweizer Regierung eine wichtige Rolle. An der letzten Vollversammlung in Genf vom April 1946 stimmten die Mitgliedstaaten der Auflösung des Völkerbunds zugunsten der UNO zu. De iure erlosch der Völkerbund am 31. Juli 1947. Der Völkerbundspalast wurde zum europäischen Sitz der UNO. Die Schweiz trat der neuen Organisation zunächst nicht bei, ging aber wieder zu einer engagierteren Aussenpolitik über, die sie seither kontinuierlich fortführt.

Quellen und Literatur

  • DDS 6-16
  • A. Fleury, «L'enjeu du choix de Genève comme siège de la Société des Nations», in L'historien et les relations internationales, 1981, 251-278
  • A. Fleury, «La Suisse et la question du désarmement dans l'Entre-Deux-Guerres», in Diplomazia e storia delle relazioni internazionali, 1991, 303-320
  • C. Moos, Ja zum Völkerbund - Nein zur UNO, 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

Antoine Fleury: "Völkerbund", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.04.2015, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026468/2015-04-15/, konsultiert am 19.03.2024.