Die oberhirtlichen Besuche der Pfarreien einer Diözese (Bistümer), auch visitatio canonica, pastoralis oder Kirchenvisitationen genannt, werden seit den Anfängen des Christentums durchgeführt und zählen noch heute zu den bischöflichen Pflichten. Die Aufgabe wurde bisweilen vom Metropoliten übernommen oder an die Archidiakone und Dekane der Dom- und Stiftskapitel delegiert. Der Visitator examinierte einerseits die materielle Ausstattung der Pfarrei, d.h. die Gebäude, Mobilien und Kircheneinkünfte (visitatio rerum), andererseits die Amtsführung sowie die Pflichterfüllung von Geistlichen und Laien und die Befolgung des Kirchenrechts (visitatio personarum).
Während Visitationen im Frühmittelalter häufig waren, gingen sie im 11. bis 12. Jahrhundert zurück. Die Blütezeit der Visitationen setzte Anfang des 13. Jahrhunderts ein und dauerte etwa bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Dennoch nahmen die Visitationsakten in der Folge spürbar zu, was vielleicht als Zeichen kirchlicher Reformbereitschaft gelten kann. So sind Visitationsberichte der Westschweizer Diözesen ab Beginn des 15. Jahrhunderts erhalten (Genf 1411-1414, Lausanne 1416-1417).
In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts nahmen sowohl die Qualität als auch die Quantität der Visitationen erneut zu: zuerst innerhalb der reformierten Kirchen (vgl. Martin Luthers und Philipp Melanchthons Visitationsordnung von 1528 für Kursachsen), dann mit der aus dem Konzil von Trient hervorgegangenen Gesetzgebung. In den reformierten Kantonen erfolgten die Visitationen durch die Kapitel. Nachdem Karl Borromäus die katholische Reform eingeleitet hatte, visitierte er 1570 alle Tessiner und Zentralschweizer Pfarreien. Visitationen der Pfarreien, Kirchgemeinden und Konvente finden auch heute noch statt. Sie befolgen die Regeln der jeweiligen Konfession und gewichten die Zusammenarbeit zwischen Leitungsorganen und Gemeinschaften stärker als die oberhirtliche Kontrolle.
Eine weitere in der katholischen Kirche gebräuchliche Visitationsform war der Besuch von Klöstern und Gotteshäusern durch Bischöfe, päpstliche Legaten und Gesandte der Generalkapitel. In der Schweiz führte oft der Nuntius solche Visitationen aus. Die bischöflichen Visitationsberichte ad limina apostolorum, die dem Heiligen Stuhl regelmässig zugestellt werden müssen, fassen die religiöse Lage eines Bistums zusammen.
Zur Vor- und Nachbereitung der Visitationen wurden Instruktionen, Fragebogen, Briefe und Mahnschreiben bzw. Protokolle und Weisungen aufgrund der Visitationsberichte verfasst; zudem regelten Konzilsbeschlüsse und Artikel des Kirchenrechts den Inspektionsrahmen und die Pflichten des Visitators. Diese Urkunden erweisen sich vor allem als Quellen für verschiedene Aspekte der Kirchengeschichte, so zum Beispiel die Stellung des Bischofs, die Diözesanorganisation, die Geistlichkeit, die Pfarrei und Pfarreiangehörige, Liturgie und Andacht sowie deren Abweichungen, die Lage der Nichtchristen und schliesslich die Fürsorge- und Spitaleinrichtungen. Zudem enthalten sie auch Informationen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, etwa zur Bevölkerungsentwicklung und zur Armut, und geben Aufschluss über die Archäologie, die Kunst-, Geistes- und Literaturgeschichte, die Sprache und das Textverständnis, das Brauchtum sowie die materielle Kultur.
Die Wissenschaft hat die Aussagekraft dieser Textgattung mehrfach hinterfragt. Die Quellenkritik betraf vor allem die Autorschaft, die handschriftliche Überlieferung und den dokumentarischen Wert der gesammelten Informationen. Deren bedingter Informationswert, der etwa der Angst vor Vergeltungsmassnahmen durch den Pfarrer, der Solidarität der Dorfbewohner oder der Nachsicht der Visitatoren geschuldet sein konnte, wird heute allgemein anerkannt.