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Linksradikalismus

Der Begriff Linksradikalismus bezeichnet eine historisch variierende Vielfalt von anarchistischen, anarcho-syndikalistischen und linkssozialistischen Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung und nicht den linken Flügel des bürgerlichen Radikalismus. Eine klare Definition lässt sich aufgrund des offenen Begriffsfelds und der oft fehlenden bzw. unbeständigen organisatorischen Strukturen des Linksradikalismus nicht machen.

Plakat der Revolutionären Marxistischen Liga, 1969: "Unser Kandidat hat auf keiner Liste Platz gefunden" (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat der Revolutionären Marxistischen Liga, 1969: "Unser Kandidat hat auf keiner Liste Platz gefunden" (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Die Tradition reicht zurück zum libertären Sozialismus und Anarchismus der Fédération jurassienne der Ersten Internationale. Von dort führen über James Guillaume direkte Verbindungen zum Zürcher Arbeiterarzt Fritz Brupbacher wie auch zum Anarchosyndikalismus der französischen Schweiz (Gewerkschaften). In der Fédération des unions ouvrières de la Suisse romande machte sich nach 1900, beeinflusst von der revolutionären Gewerkschaftsbewegung Frankreichs, ein stark anarchistisch ausgerichteter Linksradikalismus bemerkbar, der schon vor 1914 bereits wieder an Bedeutung verlor, im Kreis um Luigi Bertoni und die Zeitschrift «Le Réveil – Il Risveglio» aber weiterbestand. In der Deutschschweiz formierte sich der Linksradikalismus vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in Zürich unter der Parole des revolutionären Massenstreiks im Umfeld des Arbeiterbildungsvereins Eintracht, der sozialdemokratischen Jugendorganisationen um Willi Münzenberg und des Bau- und Holzarbeiterverbands. Grosses Gewicht kam im Linksradikalismus angesichts der Militäraufgebote gegen Streiks auch dem Antimilitarismus zu, was 1905 zur Gründung einer antimilitaristischen Liga führte. Während des Ersten Weltkriegs erwuchsen aus der Ablehnung von Burgfrieden und Krieg verschiedene linksradikale Strömungen inner- und ausserhalb der Sozialdemokratischen Partei (SP) von den Religiös-Sozialen über die Zimmerwalder Linke (Zimmerwalder Bewegung) bis zum anarchistischen Kreis um Brupbacher oder den «Altkommunisten» um Jakob Herzog. In der damaligen gesellschaftlichen Krise erlangte der Linksradikalismus aufgrund des ausgeprägten Aktivismus dieser soziopolitischen Subkultur sowie als Projektionsfläche bürgerlicher Revolutionsängste eine überproportionale Bedeutung. Nach der Spaltung der SP 1921 und der Vereinigung der Parteilinken mit den «Altkommunisten» zur Kommunistischen Partei (KP) wurde libertäres Gedankengut des Linksradikalismus wie das antiparlamentarische Konzept einer Rätedemokratie in den Hintergrund gedrängt und mit Lenin als «Kinderkrankheit des Kommunismus» kritisiert. In der Zwischenkriegszeit kam es nur vereinzelt zu eigenständigen Manifestationen eines Linksradikalismus ausserhalb der grossen Parteien der Arbeiterbewegung, wie 1930 in der Abspaltung des antistalinistischen Flügels der KP in Schaffhausen, der sich als Kommunistische Partei-Opposition konstitutierte, und während des Zweiten Weltkriegs in antimilitaristischen Aktivitäten trotzkistischer Kreise. Ausschlüsse von SP-Linken führten 1939 in Genf zur Gründung der Fédération Socialiste Suisse und 1944 zur Bildung der Partei der Arbeit (PdA) als Nachfolgerin der 1940 verbotenen KP. In der PdA hatten allerdings Ansätze einer linkssozialistischen Ausrichtung angesichts des aufkommenden Kalten Kriegs keine Chance.

Erst im Zuge der 68er-Bewegung gewannen neue linksradikale Bewegungen an Gewicht. Deren antiautoritäre Impulse wurden aber in den meist nach leninistischem Kadermodell aufgebauten Organisationen zurückgebunden und das politische Potenzial der überdurchschnittlichen Aktivierung versandete in der Zersplitterung. So entstanden unter anderem 1969 die trotzkistische Revolutionäre Marxistische Liga (Sozialistische Arbeiterpartei) und die Progressiven Organisationen (POCH) sowie später verschiedene maoistisch orientierte Gruppen, die sich als Avantgarde von zu entfachenden Massenbewegungen für eine Volksrevolution verstanden. Neben diesen in unterschiedlichen Schattierungen marxistisch orientierten Gruppen entstand – beeinflusst von «operaistischen» Gruppen in Italien und der spontaneistischen Szene in Frankreich und Deutschland – seit den 1970er Jahren eine diffusere autonomistische und anarchistische Szene, die vor allem in der Jugendbewegung der 1980er Jahre Auftrieb erhielt.

Quellen und Literatur

  • H.U. Jost, Linksradikalismus in der dt. Schweiz 1914-1918, 1973
  • H.U. Jost, Die Altkommunisten, 1977
  • D. Vogelsanger, Trotzkismus in der Schweiz, 1986
  • Gruner, Arbeiterschaft 3
  • Le temps des ruptures, hg. von P. Bavaud, J.-M. Béguin, 1992
  • Staatsschutz in der Schweiz, hg. von G. Kreis, 1993
  • D. Wisler, Drei Gruppen der Neuen Linken auf der Suche nach der Revolution, 1996
Weblinks

Zitiervorschlag

Ruedi Brassel-Moser: "Linksradikalismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.11.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027494/2008-11-27/, konsultiert am 18.04.2024.