Bei den um das Jahr 800 entstandenen Capitula Remedii handelt es sich um eine Reihe von Erlassen, die ausschliesslich im Kodex 722 der Stiftsbibliothek St. Gallen überliefert sind. Sie wurden vermutlich von Bischof Remedius von Chur in Zusammenarbeit mit seinen Amtsträgern redigiert; der Bischof wird als weltlicher und geistlicher Vorsteher Churrätiens explizit genannt. Lange Zeit zu Unrecht als Novelle der Lex Romana Curiensis geltend, wurde die Bedeutung der Capitula zunächst verkannt. Thematisch behandeln die zwölf Artikel die Heiligung der Sonntage (Kapitel I), die Unterbindung der Zauberei (II) sowie Mord (III), Meineid (IV), Ehebruch (V, VII), übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen (VI, VIII), Diebstahl (IX), allgemeine Streitigkeiten (X, XI) und die Unterdrückung der Armen (XII).

Die Capitula Remedii sind in ihrer Form einzigartig, weil sie – beeinflusst ebenso vom römischen, kirchlichen und langobardischen Recht wie von den fränkischen Kapitularien (Rechtsquellen) – kirchliche und weltliche Rechtsansprüche und Sanktionen einbeziehen. Sie verweisen auf ein dynamisches Strafrecht, das bewusst breitere Handlungsspielräume gewährleistete und damit die starren Grenzen des damals üblichen Kompositionssystems überschritt. Dazu gehörten ein komplexer Apparat von Amtsträgern, im Vergleich zu zeitgenössischen leges niedrigere Geldbussen (Germanische Stammesrechte), ein – wie auch im langobardischen Recht üblich – erhöhtes Strafmass bei Wiederholungstaten sowie die Aufforderung der Richter zur Ermittlung der Tatumstände (Gerichtswesen). Daneben suggeriert die Strafbemessung, dass sich die Capitula insgesamt an eine komplexe Gesellschaftsordnung richteten, deren Mitglieder nicht allein über ihren Stand definiert wurden. So wurde in vielen Fällen auch die funktionelle Bedeutung wie der Beruf der Geschädigten und Delinquenten oder aber ihre besondere Nähe zu Remedius mitbemessen. Funktion, Geschlecht oder wirtschaftliche Situation galten je nach Delikt als ausschlaggebend für die Urteilsfindung; den wirtschaftlich und sozial schwächer Situierten (pauperes) kam eine besondere Schutzwürdigkeit zu (Kapitel I und XII). Um sicherzustellen, dass alle um ihr Recht wussten, oblag dem Priester die Aufgabe, die Capitula zweimal monatlich vor dem gesamten Volk vorzulesen und zu erklären. Das Ziel der Capitula bestand in der Wahrung des Friedens sowie in der praktischen Rechtsunterweisung des Volks. Die Capitula können als eine auf die churrätischen Verhältnisse angepasste Ergänzung des bereits bestehenden Rechts verstanden werden, über deren Wirkung allerdings nichts bekannt ist.