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Lehre

Der Begriff Lehre, präziser Berufslehre, wird in der Schweiz üblicherweise für die Ausbildung in Berufen des kaufmännischen, industriell-gewerblichen, handwerklichen und landwirtschaftlichen Bereichs verwendet. Ein zentrales Kriterium der Lehre besteht darin, dass es sich um eine Ausbildungsform handelt, die vorwiegend im Arbeitsvollzug stattfindet. Die Absolventen der Lehre, die Lehrlinge, verbringen den grösseren Teil ihrer Ausbildung im Betrieb, in der Werkstätte oder im Atelier. Lernen ist hierbei unmittelbarer Bestandteil der alltäglichen Arbeit und Produktion, ist am Ernstfall orientiert und findet meist in Kooperation mit erfahrenen Berufsleuten statt. Dementsprechend dominiert das Prinzip der imitatio: In der Regel manuell vollzogene Tätigkeiten einer im Betrieb anwesenden Arbeitskraft, idealerweise des Lehrmeisters oder der Lehrmeisterin, werden vom Lehrling zur Kenntnis genommen und nachzumachen versucht. Es überwiegt daher ein wenig formalisierter Lernprozess. Der Lehrling partizipiert an der Erfahrung und an den über die unmittelbare Arbeitstätigkeit hinausgreifenden betriebs- und berufsspezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten. Er wächst in einen Aufgabenbereich hinein und wird demgemäss im betrieblichen Geschehen sozialisiert. Neben den arbeitsspezifischen Fertigkeiten und Fähigkeiten sind insbesondere auch die zu erlernenden Gepflogenheiten und Verhaltensweisen wichtig, welche erst das Spezifische der beruflichen Bildung ausmachen.

Historisch ist diese Form beruflichen Lernens aus einem zünftig-handwerklichen Lehrverhältnis entstanden, wie es sich in den mittelalterlichen Städten Europas entwickelt hat. Jedes Handwerk bzw. jede Zunft pflegte ortsspezifische Bräuche, die sich auf die Lehrverhältnisse auswirkten. Meist lebte der Lehrling (Lehrjunge), einem eigenen Kind ähnlich, mit der Familie des Meisters unter dem gleichen Dach und wurde auf diese Weise in den Berufsstand eingeführt. Die Eltern des Lehrlings hatten ein Lehrgeld zu entrichten, das nach Beruf und Ansehen der Zunft stark variieren konnte. Nach einer meist drei- bis vierjährigen Lehrzeit fand die Gesellenprüfung statt, die darüber Auskunft geben sollte, inwieweit der Lehrling die notwendigen Fertigkeiten zur Ausübung des betreffenden Handwerks erworben hatte. Im darauf verfassten Gesellenbrief wurde der Kandidat «losgesprochen» und ihm so – als Geselle – die Aufnahme in den Beruf ermöglicht. Die Lossprechung war häufig mit einem feierlichen Initiationsakt, einer Taufe, verbunden.

Der Gesellenstatus war für viele zugleich der Endpunkt ihrer Ausbildung. Die Erwerbung des Meistertitels, der erst das Führen eines eigenen Betriebs und die Ausbildung von Lehrlingen ermöglichte, hing nämlich nicht nur von einer mehrjährigen Wanderschaft, gefolgt von einer Prüfung – je nach Beruf mit Meisterstück – vor versammelter Zunft ab, sondern auch von einer durch die etablierten Meister bewusst knapp gehaltenen Zahl an Werkstätten. Vom 17. Jahrhundert an wurden bei grossem Andrang die Anzahl Lehrjahre und die Dauer der Wanderpflicht ausgeweitet und allenfalls die Meisterprüfung durch zusätzliche Anforderungen erschwert. Neben den qualifikatorischen Aspekten dieser Bräuche, die der Qualität des Handwerks dienten, sollten durch solche Regulative die Zahl tätiger Produzenten innerhalb einer bestimmten Region oder Stadt beschränkt und Konkurrenten ausgeschaltet werden. Es war diese Doppelfunktion, die zu Konflikten zwischen Gesellen und Meistern innerhalb der Zunft, zwischen Nichtzünftigen und Zunftmitgliedern, zwischen verschiedenen Zünften oder auch zwischen Zunft und Obrigkeit führen konnte.

Ab dem 17. Jahrhundert wurde indes die mehrjährige geregelte Lehre von der kosten- und zeitsparenden Anlehre ausserhalb zünftiger Kontrolle unterwandert. Anfänglich im nichtzünftigen Stümperhandwerk üblich, wurde sie bei immer mehr ländlichen Heimarbeiterberufen – etwa bei Webern, Strohflechtern, Strumpfstrickern und Strumpfwirkern – die gültige Form der Berufsausbildung. Im 19. Jahrhundert verzichtete der Fabrikbetrieb ganz auf Lehre und Anlehre. Als der industrielle Aufschwung und der Freihandel im Gewerbe schwere Absatzkrisen aufgrund mangelnder Konkurrenzfähigkeit auslösten, sahen die Gewerbetreibenden lange nicht ein, dass sie die Qualität ihrer Produkte nicht zuletzt durch eine Reform ihrer Ausbildung anheben müssten, um gegenüber der Industrie und ausländischen Anbietern bestehen zu können.

Der Weg zur Reform der Lehre war lang. Als man in der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft Ende der 1820er Jahre bereits die gesellschaftliche und politische Partizipation und Integration und die weitere Schulung in sogenannten Fortbildungsschulen diskutierte, versteiften sich sowohl das Gewerbe selbst wie auch die lokalen Gewerbevereine und der Schweizerische Gewerbeverein (1849-1864) auf den Konkurrenzschutz. Erst nach 1870 öffnete sich das Gewerbe der Ausbildungsreform, vor allem auch auf Betreiben des 1879 gegründeten Schweizerischen Gewerbeverbands. In den 1880er Jahren setzte sich schliesslich das Modell der Berufslehre durch, das bis heute den Charakter der Lehre entscheidend prägt. Es stand wie die Volksschule unter dem Einfluss der 1875 eingeführten pädagogischen Rekrutenprüfungen und nahm auch Elemente aus dem Prüfungsstoff auf: Ergänzend zur Lehre im Betrieb sollten an Fortbildungsschulen, den späteren Berufsschulen, nämlich Staatskundeunterricht gepflegt, der Volksschulstoff wiederholt und ausgeweitet und fachspezifisches Wissen, insbesondere Zeichnen und Berufskunde, vermittelt werden (Berufsbildung). Mit dem Bundesbeschluss von 1884 zur Subventionierung beruflicher Bildungsanstalten wurde der Grundstein gelegt, dass sich das «duale System» – beruhend auf zwei Lernorten, dem Betrieb und der Berufs- oder Gewerbeschule – entwickeln konnte.

Zur Erhaltung der traditionellen Lehre beim Meister wie auch zur Modernisierung des Bildungswesens nach der obligatorischen Volksschule wurde von Verbänden und Parteien einmütig staatliche Intervention verlangt: Fortbildungsschulen sollten unterstützt werden; es müssten aber auch neue Institutionen wie öffentliche Lehrwerkstätten, die als Modellvariante zur Lehre beim Meister berufliche Grundausbildung im Schulbetrieb vermitteln, sowie Gewerbemuseen gefördert und gleichzeitig die berufliche Ausbildung auf nationaler Ebene reglementiert und die Lehrverhältnisse überwacht werden. Erst 1930 erfolgte eine Legiferierung auf eidgenössischer Ebene, die für industriell-gewerbliche, handwerkliche und kaufmännische Berufe einen gültigen Lehrvertrag vorschrieb und einen Lehrabschluss zwingend vom Besuch einer Berufsschule abhängig machte. Weitere gesetzliche Neufassungen der beruflichen Bildung für den industriell-gewerblichen und handwerklichen Bereich erfolgten 1963 und letztmals 1978. Die Gesetzesrevisionen dienten hierbei der weiteren Festigung und Entwicklung der Lehre, die in ihren Grundzügen so belassen wurde. Die berufliche Bildung auf der Basis der Berufslehre, welche auf dem Engagement unterschiedlicher Akteure – von Berufsverbänden und Staat, von Schule, Produktionsbetrieb, Eltern und Lehrling – beruht, erwies sich als so erfolgreich, dass sie bis ins Industrie- und Dienstleistungszeitalter ihren Charakter, freilich modifiziert und durchsetzt mit immer mehr schulischen Elementen, bewahren konnte.

Lehrabschlussprüfungen (ausgestellte Fähigkeitszeugnisse) 1945-2000

Jahr1945195019601970198019902000
Lehrlinge14 15718 02421 04129 02533 53033 89327 948
Lehrtöchter6 2877 0059 82912 56120 13324 74721 203
Total20 44425 02930 87041 58653 66358 64049 151
Lehrabschlussprüfungen (ausgestellte Fähigkeitszeugnisse) 1945-2000 -  Bundesamt für Statistik

Quellen und Literatur

  • G. Frauenfelder, Gesch. der gewerbl. Berufsbildung der Schweiz, 1938
  • K. Stratmann, Die Krise der Berufserziehung im 18. Jh. als Ursprungsfeld pädagog. Denkens, 1967
  • L. Mottu-Weber, «Apprentissage et économie genevoise au début du XVIIIe siècle», in SZG 20, 1970, 321-353
  • P. Gonon, A. Müller, Öffentl. Lehrwerkstätten im Berufsbildungssystem der Schweiz, 1982
  • E. Wettstein, Die Entwicklung der Berufsbildung in der Schweiz, 1987
  • J.-P. Tabin, Formation professionnelle en Suisse, 1989
  • E. Fallet, A. Cortat, Apprendre l'horlogerie dans les Montagnes neuchâteloises 1740-1810, 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

Philipp Gonon: "Lehre", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.11.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027827/2007-11-29/, konsultiert am 18.04.2024.