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Kolportageliteratur

Als Kolportageliteratur werden Lesestoffe bezeichnet, die durch den städtischen und ländlichen Hausierhandel (colportage) ab dem 16. Jahrhundert vertrieben wurden (Hausierer). Dazu gehören Flugblätter, politische und religiöse Traktate, Erbauungsliteratur, Kalender und Almanache, medizinische Werke, Lexika, Jugendschriften (Kinder- und Jugendliteratur), Bilderbogen, aber auch literarische Werke wie Märchen, Abenteuerromane und verkürzte Prosabearbeitungen mittelalterlicher Romane (sogenannte Volksbücher).

"Der Genfer Kolporteur", Detail aus einer Karikatur. Kolorierte Radierung eines unbekannten Künstlers, 1782 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
"Der Genfer Kolporteur", Detail aus einer Karikatur. Kolorierte Radierung eines unbekannten Künstlers, 1782 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Die auf schlechtem Papier gedruckten Schriften wurden von den meist aus einfachsten sozialen Verhältnissen stammenden Kolporteuren, die oft in der Kolportage ihre einzige Verdienstmöglichkeit sahen, vor allem auf dem Land vertrieben, manchmal auch vorgelesen. Der Kolporteur war im 18. und 19. Jahrhundert der wichtigste Lesestofflieferant, wobei seine Bedeutung hauptsächlich darin lag, dass er den Lesebedarf der einfachen, ländlichen Bevölkerung deckte. Diese hatte kaum Zugang zu Leihbibliotheken und besass keine eigenen Bücher. Die deutsche Schweiz wurde häufig von Süddeutschland aus beliefert. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bereicherte die neue Gattung des Fortsetzungsromans die Kolportageliteratur. Dieser umfasste bis zu 200 Lieferungen im Umfang von 16-48 Seiten – ab den 1880er Jahren 80-110 Hefte à 24 Seiten –, und wurde vor allem in den Städten im Abonnement abgesetzt. Die Hefte enthielten Liebesgeschichten, historische Romane (zum Teil mit aktuellen Themen wie dem Tod Ludwigs II. von Bayern oder dem Balkankrieg von 1912-1913), Reiseromane oder Kriminalgeschichten, wie man sie noch heute in der Trivialliteratur in Form von Heftromanen findet.

Die grosse Verbreitung und der Erfolg dieser Romane brachte eine Debatte um ihren Wert in Gang. Der Kolportageroman wurde als Schund bezeichnet. Hauptsächlich kirchliche Kreise und Lehrer warfen ihm die Zerstörung des Sinns für Wahrheit und Wirklichkeit sowie die Verherrlichung von Verbrechern und Gewalt vor. Ausserdem wurde kritisiert, er appelliere an die niedrigen Triebe der Menschen, veranlasse die Leser zu unmoralischen Handlungen und verführe zur Lesesucht. Als Reaktion entstanden die Jugendschriftenbewegung Gute Schriften und das Schweizerische Jugendschriftenwerk. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwand die schon ab 1905 an Bedeutung verlierende Kolportageliteratur. Sie machte Romanen Platz, die auf anderen Wegen vertrieben wurden (Kioskliteratur).

Quellen und Literatur

  • A. D'Ancona, «Saggio di una bibliografia ragionata della poesia popolare italiana a stampa del secolo XIX», in Bausteine zur Rom. Philologie, 1905, 117-146
  • R. Mandrou, De la culture populaire aux XVIIe et XVIIIe siècles, 1964 (31999)
  • B. Spörri, Studien zur Sozialgesch. von Literatur und Leser im Zürcher Oberland des 19. Jh., 1987
  • G. Jäger, «Der Kampf gegen Schmutz und Schund», in Archiv für die Gesch. des Buchwesens 31, 1988, 163-191
  • R. Schenda, Volk ohne Buch, 31988
  • R. Ernst, Lesesucht, Schund und Gute Schr., 1991
  • Enz. des Märchens 8, 1996, 76-85, (mit Bibl.)
  • A. Messerli, Lesen und Schreiben in Europa 1500-1900, 2000
  • M. Storim, «"Einer, der besser ist als sein Ruf"», in Schund und Schönheit, hg. von K. Maase, W. Kaschuba, 2001, 252-282
  • A. Messerli, Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Rosmarie Zeller: "Kolportageliteratur", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.10.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/028705/2015-10-27/, konsultiert am 12.10.2024.