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Aberglaube

Begrifflich und inhaltlich ist das Wort Aberglaube (mittelhochdeutsch aber = wider, gegen) nicht eindeutig festzulegen. Es steht wie der lateinische Parallelbegriff superstitio in negativer Wertung als "verkehrter", abweichender oder überholter Glaube dem jeweils "richtigen" Glauben gegenüber. Wie dieser änderten unter dem Einfluss zeitbedingter gesellschaftlicher und religiöser Normen und Werte auch seine Inhalte, was sich vor allem in den Formen Observation (Beobachtung von Zeichen), Divination (willentlich herbeigeführte Orakel) und magische Kunst (Zauberei) äusserte. Fliessend waren somit zu allen Zeiten auch die Übergänge zur Magie, aber auch zur Astrologie und zur Volksfrömmigkeit. Die historisch arbeitende Volkskunde hat in der Schweiz vieles vom Formenschatz des Aberglaubens durch Umfragen und Sageneditionen der Nachwelt erhalten. Jedoch ist die von ihr in den 1920er bis 1940er Jahren vorgenommene Zuordnung zum Volksglauben nicht unumstritten, da sich die beiden Begriffe nur teilweise decken. Der Begriff Aberglaube selbst wird heute im wissenschaftlichen Gebrauch eher vermieden.

Von den Lehren des Augustinus geprägt, bekämpfte die mittelalterliche Kirche die Verehrung heidnischer Gottheiten (Götzendienst), magische und animistische Vorstellungen (Dämonenkult), später auch "überflüssige" Elemente, die der wahren Religion hinzugefügt worden waren, so bei Thomas von Aquin, der Aberglauben zudem als Gegensatz zur Tugend, d.h. als religiösen, intellektuellen und sittlichen Mangel verstand. Im Laufe des Mittelalters richtete sich der Vorwurf des Aberglaubens zunehmend gegen Christen, die von der offiziellen Kirchenlehre abwichen (Ketzer). Daneben konnte sich, von der Kirche geduldet, eine Volksfrömmigkeit entwickeln, die kirchliche mit abergläubisch-magischen Vorstellungen vermengte. Darunter fielen unter anderem Formen der Heiligenverehrung und des Pilgerwesens.

Unheil verkündende Himmelserscheinung in der Nähe von Prag. Kolorierter Holzschnitt, Einblattdruck aus der Nachrichtensammlung von Johann Jakob Wick, 1580 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv, Wickiana, herausgelöst aus Ms. F 29, Fol. 172).
Unheil verkündende Himmelserscheinung in der Nähe von Prag. Kolorierter Holzschnitt, Einblattdruck aus der Nachrichtensammlung von Johann Jakob Wick, 1580 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv, Wickiana, herausgelöst aus Ms. F 29, Fol. 172). […]

Durch die Reformation brachen auch in der Schweiz die Ansichten über Aberglauben auseinander. Neu- und Altgläubige bezichtigten sich gegenseitig des Aberglaubens, nun aufgrund verschiedener Kriterien: Katholiken warfen Reformierten als Aberglauben das Abweichen vom rechten Glauben vor, Reformierte den Katholiken unter anderem das Festhalten an alten Kirchenpraktiken (Heiligenverehrung als Götzenanbetung). Auch innerhalb des Protestantismus wurden bestimmte Praktiken, zum Beispiel von der protestantischen Orthodoxie, als Aberglaube ausgegrenzt, hatten aber im Pietismus und später in Freikirchen und Sekten eine tragende Funktion. Gleichermassen involviert waren Obrigkeiten beider Konfessionen an Hexenprozessen (Hexenwesen), an denen Angeklagte abergläubischer und magischer Praktiken beschuldigt wurden. Weder von Konfessionsgrenzen noch durch Stadtmauern aufhalten liessen sich die wundergläubigen und abergläubischen Interpretationen der vielgestaltigen Zeichen (z.B. Unheil kündende Himmelserscheinungen), die beispielsweise der Zürcher Chorherr Johann Jakob Wick in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sammelte ("Wickiana"). Tief verwurzelt war die Angst vor der Macht des Teufels und der Dämonen, denen man Unglück in Haus und Stall zuschrieb. In katholischen Gebieten vertrieben die volksnahen Kapuziner mittels Haus-, Hof- und Alpsegnungen "teuflische Hexengespenster". Zu Segnungen wurden sie auch heimlich in reformierte Gebiete gerufen, so vom Entlebuch aus auf grenznahe Emmentaler Höfe. Bei Ausbruch des Zweiten Villmergerkriegs (1712) segneten sie Amulette als magischen Kugelschutz für Soldaten.

Eine erhebliche Bedeutungserweiterung von der Opposition zur wahren Religion hin zum allgemeinen Mangel an Vernunft erfuhr der Begriff Aberglaube in der Kritik des Rationalismus und der Aufklärung. Auch in der Schweiz wandten sich die Aufklärer gegen die Unwissenheit des Volkes als Ursache des Aberglaubens und bekämpften ihn deshalb durch Belehrung, teils mit denselben Mitteln der Almanache, die auch der Verbreitung von Aberglauben dienten. Trotz zahlreicher Verbote aufgeklärter Obrigkeiten liess sich dem Aberglauben in der Landbevölkerung schwer beikommen. Noch im 19. Jahrhundert bekämpften ihn zum Beispiel Heinrich Zschokke und Jeremias Gotthelf in Kalendergeschichten. Ausgehend von der Vorstellung seiner kulturgeschichtlichen Relikthaftigkeit wurden in der Romantik Formen des Aberglaubens als Ruinen und Reste eines alten Ganzen intensiv gesammelt.

Viele magische Vorstellungen und Praktiken erhielten sich in Bräuchen bis ins 20. Jahrhundert, so etwa die Deutung von Vogelrufen, Holzwurm-Pochen, Träume usw. als Todesvorzeichen oder Orakel (u.a. Bleigiessen als Liebesorakel). Im alpinen Raum waren Unheilsahnungen mit dem Totenzug armer Seelen (Gratzug) verbunden oder mit stechenden und schneidenden Hochzeitsgeschenken, welche die Liebe bedrohten (Tessin, Wallis). Vom Genfer- bis an den Bodensee erhielten sich abergläubische Wettervorhersagen (Bauernregeln, Hundertjähriger Kalender), Tagewählerei ("schwarzer" Freitag, Mittwoch) und Glücksbringer (Hufeisen, vierblättriges Kleeblatt usw.). Oft ist der magische Kern, etwa bei Ernte-, Alp-, Handwerks- und Festtagsbräuchen, nicht mehr bewusst.

Zwar gingen zahlreiche ländliche Praktiken des Aberglaubens in der jüngeren Vergangenheit vergessen. Die zunehmende Technisierung und "Entzauberung der Welt" (Max Weber) im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert war jedoch in der urbanisierten Gesellschaft auch von Ausbrüchen ins Irrationale begleitet, die unter anderem in Astrologie, Esoterik, seit den 1960er Jahren vermehrt auch in Spiritualismus und Okkultismus zum Ausdruck kommen und in der Schweiz zum Beispiel von Carl Gustav Jung und Sergius Golowin thematisiert wurden. In der jüngeren Geschichtswissenschaft wird das Fortbestehen abergläubischer Tendenzen in der Moderne seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert intensiv diskutiert.

Quellen und Literatur

  • Hwb. des dt. Aberglaubens, 10 Bde., hg. von H. Bächtold-Stäubli, 1927-42 (Nachdr. 1987 mit Vorwort von C. Daxelmüller)
  • R. Weiss, Volkskunde der Schweiz, 1946, 298-330 (31984)
  • ASV, 1950-
  • Die Religion in Gesch. und Gegenwart, hg. von K. Galling, Bd. 1, 1956-57, 53-63
  • D. Harmening, Superstitio, 1979
  • LexMA 1, 29-32
  • U. Brunold-Bigler, Die religiösen Volkskal. der Schweiz im 19. Jh., 1981
  • E. Derendinger, Die Beziehung des Menschen zum Übernatürlichen in bern. Kal. des 16. bis 20. Jh., 1985
  • Glaube im Abseits, hg. von D.-R. Moser, 1992 (mit Bibl.)
  • J.-C. Schmitt, Heidenspass und Höllenangst, 1993 (franz. 1988)
  • K. von Greyerz, Religion und Kultur, 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Erika Derendinger: "Aberglaube", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.07.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/030175/2016-07-29/, konsultiert am 10.09.2024.