Seelsorge bezeichnet einen spezifischen Teilbereich des kirchlichen Handelns. Sie umfasst den Dienst an der Seele im persönlichen Wirken der Amtsträger und Vertreter von Kirchen und Freikirchen. Die Seelsorge erfolgt durch die Begleitung von Einzelpersonen, Paaren, Familien und Gruppen in unterschiedlichen Lebenslagen mittels Gespräch, Beichte, Pflege der Frömmigkeit oder praktischer Hilfe (Diakonie).
Mittelalter und frühe Neuzeit

Nach der Herausbildung von kirchlichen Strukturen in Spätantike und Frühmittelalter entstanden Seelsorgebezirke, und die seelsorgerische Tätigkeit des Klerus in Stadt und Land verband sich mit Taufpraxis (Taufe), Gottesdienst (Liturgie), Kommunion, Krankensalbung und Bestattung in geweihter Erde. Beichte, Busse und Absolution – zuerst öffentlich, dann zunehmend auch privat, später in sakramentaler Form der Ohrenbeichte – wurden als genau geregelte Verfahren zum Inbegriff kirchlicher Seelsorge. Im Hochmittelalter wurde das Verständnis von Seelsorge auch vom christlichen Ritterideal, von Heiligenverehrung und Wallfahrten (Pilgerwesen) geprägt. Wichtige Impulse gingen vom Mönchtum, von verschiedenen Orden (z.B. Franziskusorden) und den monastischen Reformbewegungen aus. Die entstehenden Pfarreien, in denen die cura animarum (Thomas von Aquin) durch den Klerus versehen wurde, bildeten allmählich ein stabiles, zusammenhängendes Netz. Das schon vor der Pest weit verbreitete Krisengefühl führte im 14. Jahrhundert zu einer ausgedehnten Praxis der Heilsvorsorge hinsichtlich des Todes.
Die Reformation brachte in vielen Gebieten der Schweiz auch eine tiefgreifende Umgestaltung der Seelsorge mit sich. So gab es in den reformierten Gebieten keine Fürbitten für die Verstorbenen, keine Wallfahrten und keine Heiligenverehrung mehr. Die Seelsorger, unterstützt von den Sittengerichten, waren nun verantwortlich für die Schaffung einer neuen Lebensordnung, sie brandmarkten und verhinderten die öffentliche Sünde und nahmen das Wächteramt der Kirche wahr. Seelsorge fand ihren Ort in Beichte und Kirchenzucht. Weil im Sinn der Reformatoren die Obrigkeit und das weltliche Regiment an Gottes Wort gebunden waren, sollten auch sie zur öffentlichen Sittlichkeit Sorge tragen. Für die protestantische Pastoraltheologie wurde Huldrych Zwinglis Schrift «Der Hirt» (1523) wichtig. Ferner prägte Johannes Calvin das Wesen der protestantischen Seelsorge. Seine gesamte Theologie und reformatorische Wirksamkeit kann als Leitung der Seelen verstanden werden. Calvin propagierte die Hausbesuche (visitatio domestica), die der Erbauung und Ermahnung dienten. Die Genfer Kirchenordnungen «Ordonnances ecclésiastiques» (1541, 1561) sahen jährliche Familienvisitationen durch eine gemischte Kommission vor und enthielten Anweisungen für den Besuch von Kranken und Gefangenen. Diese Impulse wurden in den reformierten Kirchenordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts aufgenommen. Die Seelsorge war hervorragend organisiert, behielt aber trotz der Betonung der Gemeinde eine autoritative Struktur, da sie immer auch Aufsicht und Bevormundung durch die kirchliche und weltliche Obrigkeit bedeutete. Da es in der reformierten Gesellschaft nicht mehr möglich war, begangene Sünden durch kirchliche Gnadenmittel zu kompensieren, erhielt auch die Seelsorge verstärkt einen disziplinierenden Charakter. Die reiche Andachtsliteratur zeigt, dass die individuelle seelsorgerische Begleitung der Gläubigen auch im 17. Jahrhundert ein wichtiges Anliegen der protestantischen Orthodoxie blieb.
In den katholischen Gebieten wurde das kirchliche Amt nach dem Konzil von Trient (1545-1563) wieder ganz in den Dienst der Seelsorge gestellt und die theologische, pastorale und spirituelle Ausbildung der Priester gefördert. Die Jesuiten (Priesterseminarien) waren traditionell in der meditativ-kontemplativen Seelsorge beschäftigt. Sie begründeten die Exerzitienbewegung, die bis Ende des 18. Jahrhunderts fast ausschliesslich von ihnen getragen wurde; prominenter Vertreter war Petrus Canisius. Ausserdem übernahmen vor allem die Kapuziner in der Begleitung von Kranken, Gefangenen und zum Tode Verurteilten seelsorgerische Aufgaben und intensivierten die Beichtseelsorge.
Der Pietismus veränderte das Verständnis der Seelsorge nachhaltig. Die individuelle religiöse Erfahrung rückte ins Zentrum, die persönliche Erweckung und Wiedergeburt des sündigen Menschen und der daraus entspringende Wille, das kirchliche und das soziale Leben nach biblischen Kriterien zu gestalten und sich auch um das leibliche Wohl des Schwachen zu kümmern. Rechtfertigung, Wiedergeburtserfahrung und Heiligungsstreben wurden miteinander verknüpft. In der brüderlichen Privat- und Individualseelsorge (ecclesiolae in ecclesia) sollten auch Laien zur Bibel und zu einer eigenen Stimme finden. Pietistische Seelsorge wurde in den sozial durchmischten Sozietäten der Herrnhuter Brüdergemeinen praktiziert.
In der Aufklärung entwickelte sich die Seelsorge zum Mittel der individuellen Charakterbildung. Ihr Ziel war, den Menschen zur geistigen Mündigkeit anzuleiten, damit er sich keiner anderen Autorität verpflichtete als dem freien Urteil der Vernunft. Der Seelsorger verstand sich als Tugendlehrer und Seelenfreund, der den Menschen vom richtigen Denken zum richtigen Handeln begleitete. Katholische Aufklärer forderten die Reform von Seelsorge und Liturgie und die Überwindung des in barocker Pracht veräusserlichten Glaubens. Auf reformierter wie auf katholischer Seite wurden erste Versuche unternommen, psychologische Erkenntnisse in die Seelsorge und die religiöse Verkündigung einfliessen zu lassen. Die Seelsorger bedienten sich lebensnaher Ratschläge aus Medizin oder Landwirtschaft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gehörten sowohl der Katholik Johann Jakob Heer wie der Reformierte Johann Kaspar Lavater einer Strömung an, die auf die biblisch orientierte Seelsorge zurückgriff, jedoch das allgemeine Bildungsgut und das psychologische Wissen der Aufklärung miteinbezog.
19. und 20. Jahrhundert
Die grossen Veränderungen des 19. Jahrhunderts – insbesondere Industrialisierung, Radikalismus und Liberalismus – hatten in den katholischen und den reformierten Gebieten der Schweiz unterschiedliche Auswirkungen auf die Seelsorge. Die Erweckungsbewegungen führten zu einer weiteren Zersplitterung des Protestantismus, der aber auf praktischer Ebene sehr aktiv blieb und eine Vielzahl sozialer Werke hervorbrachte. In den katholischen Gebieten der Schweiz, die sich als geschlossenes Milieu von liberalen Strömungen in Kultur und Politik abgrenzten, blieb die Pfarrei trotz tiefgreifender kirchenpolitischen Umstrukturierungen Fixpunkt der Seelsorge. Der Pfarrer stand seinen Gemeindegliedern als Volksmann, Wortverkünder und Sakramentenspender nahe und sollte sie auch in praktischen Lebensfragen seelsorgerisch begleiten. Im vielgestaltigen katholischen Vereins- und Verbandsleben, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, nahm die Seelsorge eine wichtige Stellung ein.
Im 20. Jahrhundert gewannen säkulare Entwürfe der Psychotherapie für die seelsorgerische Praxis und die praktische Theologie zunehmend an Bedeutung. Bereits ab 1908 rezipierte der Zürcher Theologe Oskar Pfister die Psychoanalyse. Weitere psychotherapeutische Konzeptionen und klinische Ausbildungsmodelle wurden vor allem von der sogenannten Seelsorgebewegung der 1970er Jahre aufgenommen. In der begleitenden Einzelseelsorge wurde grosses Gewicht auf die Wahrnehmung der Leidenden und die personenzentrierte Vermittlung des Evangeliums gelegt. Die dialektische Theologie nahm in den reformierten Landesteilen starken Einfluss auf die Seelsorge, die als explizite Verkündigung der Rechtfertigung im Gespräch gedeutet wurde. Im katholischen Bereich beeinflusste das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) die seelsorgerische Praxis, indem mehr Laientheologen ausgebildet wurden und diese eine grössere Kompetenz erhielten. Die theologische Zeitschrift «Anima» (seit 1965 «Diakonia») wurde von Schweizer Theologen wesentlich mitgestaltet, zum Beispiel von Alois Müller (1924-1991) und Leo Karrer. Die Kirchen reagierten auf die wachsende Vereinzelung ihrer Mitglieder mit neuen Angeboten, zum Beispiel der Telefonseelsorge. 1957 wurde in Zürich die erste Stelle der Dargebotenen Hand eröffnet. Am Ende des 20. Jahrhunderts offerierten Kirchen und andere christliche Institutionen Seelsorge auch im Internet. Die ökumenische Zusammenarbeit in Ausbildung und Praxis der Seelsorge in Gemeinde und Institutionen (Militär, Gefängnis und Spital) wurde seit den 1960er Jahren verstärkt.
Quellen und Literatur
- E. Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, 1946 (71994)
- J.-D. Benoit, Calvin, directeur d'âmes, 1947
- W. Schütz, Seelsorge, 1977
- L. Karrer, Kath. Kirche Schweiz, 1991
- E. Nase, Oskar Pfisters analyt. Seelsorge, 1993
- Ökumen. Kirchengesch. der Schweiz, hg. von L. Vischer et al., 1994
- Gesch. der Seelsorge in Einzelporträts, hg. von C. Möller, 3 Bde., 1994-96