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Milizsystem

Der Begriff Milizsystem bezeichnet ein im öffentlichen Leben der Schweiz verbreitetes Organisationsprinzip, das auf der republikanischen Vorstellung beruht, wonach ein jeder dazu befähigter Bürger neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben zu übernehmen hat. Der nur in der Schweiz gebräuchliche Ausdruck rührt vom Kriegswesen (lateinisch militia) her. Seine Ursprünge reichen indessen in die attische Demokratie und frühe römische Republik zurück und umfasste schon damals die Ausübung ziviler Ämter. Niccolò Machiavelli sah in der alten Eidgenossenschaft die Wiederkunft des römischen Prinzips der Einheit von Bürger und Soldat. Im Republikanismus wurde vor den Gefahren einer Berufsarmee gewarnt: Montesquieu, später Jean-Jacques Rousseau, David Hume, Immanuel Kant oder Thomas Jefferson verlangten alle die Bewaffnung des Volks (Miliz) und das Verbot eines stehenden Heeres. Die schweizerische Milizarmee geht auf die spätmittelalterlichen Aufgebote der einzelnen eidgenössischen Orte (Militärwesen) zurück. Das Prinzip der Bürgerarmee wurde in den Artikel 21, 25 und 92 der Helvetischen Verfassung von 1798 nach dem Vorbild der französischen und amerikanischen Revolutionsarmee sowie in den Militärreglementen von 1804 und 1817 festgeschrieben. Die regenerierten Kantonsverfassungen ab 1830 übernahmen es. Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 anerkannten die allgemeine Wehrpflicht und untersagten dem Bund, stehende Truppen zu halten, aber erst 1999 wurde das militärische Milizsystem in Artikel 58 explizit in der Bundesverfassung genannt. Es findet seinen symbolischen Ausdruck darin, dass der wehrpflichtige Schweizer Soldat seine Waffe und Ausrüstung nach Hause nimmt, wobei die private Aufbewahrung der Waffe in jüngster Zeit zur Diskussion gestellt wird.

Bereits im Ancien Régime wurde das Milizsystem auf die Politik ausgedehnt. Die Helvetische Verfassung liess dem Milizartikel (Artikel 25) einen Artikel 24 vorausgehen, worin der Jungbürger den Eid abzulegen hatte, seinem Vaterlande zu dienen. Die regenerierten Kantonsverfassungen übertrugen das Milizsystem auf die Gemeinden und deren Selbstverwaltung. In allen öffentlichen Angelegenheiten hatten die Bürger ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahrzunehmen. Darauf stützte sich die republikanische Staatsform ab und daraus bezog sie ihre fortwährende Lebenskraft. Es war deshalb üblich, dass die wichtigen Staatsstellen nicht von fest angestellten Magistraten oder Beamten, sondern von Bürgern auf Amtsdauer eingenommen wurden. Vor allem auf der Stufe der Gemeinde kam das Milizsystem zum Zug (u.a. Mitglieder des Gemeinderats, des Stimmbüros). Dieses Prinzip ergänzte sich im 19. Jahrhundert gut mit den Anliegen der demokratischen Bewegung, welche die Bestellung der Behörden in den Kantonen demokratisierte.

Das Milizsystem fand auch Eingang in den privaten Bereich, indem die durch die Vereinsfreiheit garantierte Vereinigung von natürlichen Personen stets auf eine freiwillige Mitarbeit angewiesen war (Vereine). Die Vereinsämter wurden – ähnlich wie im Fall der Gemeinde- und Staatsämter – auf Amtsdauer von Freiwilligen übernommen, womit sich das Milizsystem mit der Zivilgesellschaft verband. Selbst in der Wirtschaft wird der Begriff Milizsystem im Zusammenhang mit der Bestellung von Verwaltungs- und Stiftungsräten gebraucht.

Das Milizsystem erlitt im 20. Jahrhundert einen starken Einbruch und befindet sich in Staat und Gesellschaft auf dem Rückzug. Selbst in der Armee XXI wurde das Milizsystem durch die Einführung von Durchdienern und Zeitsoldaten gelockert. Bedingt durch die gestiegenen Anforderungen wurden zahlreiche staatliche Ämter professionalisiert, zum Beispiel die Abschaffung der sogenannten Jugendschutzkommissionen oder die Abschaffung der Rekurskommission im Bund und deren Ersetzung durch das Bundesverwaltungsgericht 2007. Auch die Vereine erlebten eine Schwächung, weil es an Freiwilligen mangelt. In vielen Kantonen arbeiten die Regierungsmitglieder schon seit langem vollberuflich; das gleiche gilt für die Richter oberer Justizbehörden. Die Verwaltung wurde seit ihren Anfängen berufsmässig organisiert. Im Zug ihres Ausbaus löste sie etliche Milizkommissionen ab. Die Mitglieder der kommunalen und kantonalen Parlamente sind hingegen bis heute nebenberuflich tätig. Auf Bundesebene scheiterten bisher die Versuche einer Professionalisierung der Räte, so in der Volksabstimmung von 1992 über das Entschädigungs- und Infrastrukturgesetz. Gleichwohl kommt zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Mitgliedschaft im National- oder Ständerat einer Arbeitsbelastung von 50% gleich.

Quellen und Literatur

  • A. Riklin, «Milizdemokratie», in Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, hg. von G. Müller et al., 1982, 41-57
  • J. Metzger, Die Milizarmee im klass. Republikanismus, 1999
  • M.-L. André, Système de milice, public-privé et genre, Liz. Genf und Lausanne, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Kley: "Milizsystem", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.11.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/043694/2009-11-10/, konsultiert am 19.03.2024.