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Technikgeschichte

Technikgeschichte untersucht Angebote technischer Entwicklungen, welche in bestimmten historischen Kontexten entstanden sind und von sozialen Gruppen oder ganzen Gesellschaften als Möglichkeit sozialen Wandels wahrgenommen, ausgehandelt und schliesslich genutzt oder vergessen worden sind. Die Problemstellungen der Technikgeschichte entwickeln sich aus dem je gegenwärtigen Orientierungsbedarf einer Gesellschaft, ihre Verfahren entsprechen den aktuellen geschichtswissenschaftlichen Methoden (Geschichte).

Unter den Bedingungen modernen Wirtschaftswachstums lässt sich nicht nur eine beschleunigte Technisierung gesellschaftlicher Praxis, sondern auch ein steigender Bedarf an technikhistorischer Reflexion feststellen, an der allerdings die akademische Geschichtsschreibung bis in die 1960er Jahre kein Interesse fand: Weder die politische Geschichte noch die geistesgeschichtliche Historiografie haben Technikentwicklung je zu ihrem Gegenstandsbereich gemacht. Technikgeschichte tauchte vielmehr – in ahistorischer Modellierung oder als exogener Faktor – in den Analysen der Nationalökonomie bzw. der politischen Ökonomie auf. Von marginaler Bedeutung blieben einzelne historisierende Einleitungen zu technischen Lehr- und Handbüchern, die als Frühform der Ingenieurgeschichte gelten können und als Erzählungen von grossen Männern und grossen Artefakten angelegt waren. Dem gleichen Duktus waren, im ausseruniversitären Bereich, populärwissenschaftliche biografische Schriften über Erfinder verpflichtet.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert erhielt Technikgeschichte dadurch neue Impulse, dass sich mit der zweiten Industriellen Revolution (Chemie und Elektrizitätswirtschaft) tief greifende soziotechnische Veränderungen im Industrialisierungsprozess abzeichneten und gleichzeitig die Professionalisierung des Ingenieurwesens eine erhöhte Nachfrage nach berufsspezifischer Selbstdarstellung auslöste. Auf die bildungsbürgerlichen Abschliessungstendenzen gegenüber Ingenieuren und Technikern reagierten technikhistorische Legitimationsschriften, denen die Rolle zukam, «technischen Fortschritt» als einen fundamentalen Beitrag zur Kulturentwicklung darzustellen. Den Geschichtswissenschaften blieb die berufsständisch orientierte Technikgeschichte der «Pioniere» und «Kulturdenkmäler» jedoch suspekt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb die Technikgeschichte eine Domäne der Ingenieure, welche die genealogischen Entwicklungslinien von Werkzeugen, Maschinen und Artefakten positivistisch aufzeichneten. Ein zusätzliches Aktionsfeld erschloss sich die Technikgeschichte durch Festschriften, welche grosse Firmen anlässlich ihrer Jubiläen ab Beginn des 20. Jahrhunderts publizierten. Sie sind zum Teil von hohem dokumentarischen Wert und eine reiche Fundgrube für technik- und wirtschaftshistorische Studien, so etwa Walter Wysslings «Die Entwicklung der schweizerischen Elektrizitätswerke und ihrer Bestandteile in den ersten 50 Jahren» (1946).

Der Ende der 1950er Jahre einsetzende Paradigmenwechsel der Geschichtswissenschaft hin zu einer sozial- und wirtschaftshistorischen Strukturgeschichte erhöhte das universitäre Interesse an der Technikgeschichte nachhaltig. Mit der Institutionalisierung von Professuren für Wirtschaftsgeschichte oder Sozialgeschichte setzte in den 1960er und 1970er Jahren eine Akademisierung der Technikgeschichte ein. Dabei begann sich die Technikgeschichte mit Innovationsprozessen, mit der Wirkung relativer Rückständigkeit, mit Unternehmenskulturen, mit Bedingungen industrieller Arbeit und mit der Technisierung des Alltags zu beschäftigen.

In der Schweiz bezeugen Rudolf Brauns Arbeiten zur Industrialisierung, die wirtschaftshistorischen Untersuchungen Hansjörg Siegenthalers und seiner Schüler, François Jequiers Beiträge zur Uhrenindustrie, Jean-François Bergiers «Histoire du Sel» oder Paul-Louis Pelets Arbeit über die waadtländische Eisenindustrie das Interesse an technikhistorisch relevanten Fragen. Während in den 1980er Jahren eine industriearchäologische, stadtgeschichtliche und alltagshistorische Technikgeschichte entstand (Bruno Fritzsche, Hans-Peter Bärtschi, David Meili), folgte in den 1990er Jahren ein Übergang zu poststrukturalistischen Erklärungsmodellen, die nun zunehmend von der Wissenschafts- und Kulturgeschichte inspiriert waren und mit Gewinn diskursanalytische Zugänge erprobten. David Gugerlis Studie zur Elektrifizierung der Schweiz («Redeströme» 1996) und seine mit Daniel Speich verfasste Monografie zu Politik, kartografischer Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert («Topografien der Nation» 2002) markieren diese Neuorientierung der Technikgeschichte.

Technikgeschichte zeichnet sich in der Schweiz durch eine besonders schwache universitäre Institutionalisierung aus. Getragen wird die schweizerische Technikgeschichte vorwiegend von privaten Vereinen, von Museen sowie von Selbstdarstellungsforen der Ingenieur- und Technikerverbände. Besonderes Gewicht kommt dem 1959 eröffneten Verkehrshaus der Schweiz in Luzern zu. Weitere wichtige technikhistorische Institutionen sind das Musée international d'horlogerie in La Chaux-de-Fonds (1902 gegründet), die Stiftung Eisenbibliothek im Klostergut Paradies (1948), der Verein für wirtschaftshistorische Studien (1950), der seit 1955 die Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» herausgibt (2012 95 Bde.), das Technorama in Winterthur (1982), die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst (1990) sowie die Schweizerische Gesellschaft für Technikgeschichte und Industriekultur (1991). 1997 wurde an der ETH Zürich die erste Professur für Technikgeschichte eingerichtet, deren Forschungsarbeiten in zahlreichen Publikationen, unter anderem seit 1999 in der Buchreihe «Interferenzen», fassbar sind.

Quellen und Literatur

  • Wissenschafts- und Technikforschung in der Schweiz, hg. von B. Heitz, B. Nievergelt, 1998
  • H. J. Schröder, Technik als biogr. Erfahrung 1930-2000, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

David Gugerli: "Technikgeschichte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.09.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/045891/2012-09-11/, konsultiert am 10.12.2024.