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Handels- und Gewerbefreiheit

Die Handels- und Gewerbefreiheit, auch Wirtschaftsfreiheit genannt (Artikel 27 BV), ist das Menschenrecht der freien Berufswahl und Berufsausübung sowie das Unternehmensrecht, geschäftliche Entscheide ohne Einschränkung durch staatliche Vorschriften selbst zu treffen. Als eigenständiges, formuliertes Grundrecht, das sowohl Schweizer Bürgern wie auch niedergelassenen Ausländern zukommt, stellt sie eine schweizerische Besonderheit dar und steht in engem Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit und der Garantie des Eigentums sowie generell einer marktwirtschaftlichen Grundordnung.

Wirtschaftsentwicklung im Zeichen der Zunftwirtschaft und Protoindustrie

Dem Mittelalter war Wirtschaftsfreiheit im Handel nicht fremd. Die mittelalterliche Stadtwirtschaft basierte zu einem guten Teil auf der in Stadtrechten und auf städtischen Märkten privilegierten Handelstätigkeit der Kaufleute. Auch im Gebiet der heutigen Schweiz bauten international tätige Handelsgesellschaften wie die in Bern und St. Gallen domizilierte Diesbach-Watt-Gesellschaft im 15. Jahrhundert unbehindert von dirigistischen Eingriffen ihrer Städte europaweite Fernhandelsnetze auf. Unternehmerische Freiheit im Handwerk liess Gewinn bringende Gross- und Exportgewerbe vor allem der Textil- (Zürich, Freiburg), Leder- (Bern) und Senseproduktion (Luzern), selbstständige Frauenarbeit und die Niederlassung Fremder zu. Die Wirtschaftsfreiheit in Handwerk und Handel (Gewerbe) trug wesentlich zur Prosperität der spätmittelalterlichen Städte bei.

Das ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von den Zünften sukzessive durchgesetzte Wirtschaftssystem, das schliesslich in ganz Europa galt, beendete die mittelalterliche Wirtschaftsfreiheit. Die Zunftwirtschaft beinhaltete Handelsverbote für Handwerker und Produktionsverbote für Händler und untersagte Werkstatt- und Geschäftsgemeinschaft. Berufswahl und Werkstattgründungen unterlagen Beschränkungen. Der Wettbewerb wurde durch die Vorschrift des Kleinbetriebs sowie durch feste Preis- und Lohntarife unterbunden und die Konkurrenz durch Privilegierung der Zunftmitglieder, das Verbot selbstständiger Frauenarbeit sowie generell durch Niederlassungsbeschränkungen für Berufsleute ausgeschaltet. Protektionistische Eingriffe verletzten die Marktfreiheit; unter anderem wurden fremde Händler durch selektiv erteilte Patente fern gehalten und Importware nicht zugelassen. Die Zölle wurden nicht mehr primär fiskalisch, sondern zunehmend zur Marktabschottung genutzt. Starre Wirtschaftsregulierung und Innovationsfeindlichkeit der Zunftwirtschaft lähmten das Wirtschaftsleben, sodass Fortschritt und betrieblicher Wandel schliesslich nur mehr ausserhalb des Handwerks stattfanden.

Die Rückeroberung einer gewissen Wirtschaftsfreiheit gelang in Nischen, die von der Zunftordnung nicht kontrolliert waren, sowie im Zeichen neuer Betriebsformen, welche im kapitalistischen Verlagssystem Produktion und Handel kombinierten. Die Unternehmen entstanden vorerst in der Stadt wie die Wollweberei, Seidenverarbeitung und Posamenterei in Genf, Zürich und Basel. Auseinandersetzungen mit den Zünften hatten zur Folge, dass die Genfer Unternehmer aufgaben, die Zürcher zwar Geschäftssitz, Weberei und Ausrüstung in der Stadt behielten, aber die Spinnerei auf die Landschaft verlegten, und die Basler Geschäftssitz und Heimarbeit in der Posamenterei und Seidenspinnerei ganz in der Landschaft konzentrierten. Die Leinwandproduktion der Ostschweiz stützte sich auf Städte (Konstanz, St. Gallen) und Landschaften ab. Dagegen fand die Protoindustrialisierung des 17. und 18. Jahrhunderts fern von städtisch-zünftigem Interventionismus mehrheitlich auf dem Land statt, namentlich die Leinwandproduktion im Bern- und Luzernbiet, die Baumwollverarbeitung der Gewerberegionen vom Aargau bis in die Ostschweiz und die Schappespinnerei in der Zentralschweiz, getragen von mehrheitlich ländlichen Unternehmern und einer ausschliesslich ländlichen Heimarbeiterschaft.

Rechtsentwicklung seit der Helvetik

Helvetik und 19. Jahrhundert

Die Freiheitsrechte, die sich ab der Helvetik schrittweise durchsetzten, ermöglichten die rasche Industrialisierung der Schweiz. Der Befreiungsprozess, der auch die Lösung der Landwirtschaft vom Flurzwang umfasste, war aber ausserordentlich langwierig, denn das zünftige Handwerk oder andere früher privilegierte Gewerbe wie beispielsweise die Säumergenossenschaften an den Alpenpässen wehrten sich hartnäckig gegen jede Deregulierung.

In der Helvetischen Republik waren Freiheit und Gleichheit aller Schweizer erstmals flächendeckend gewährleistet, aber noch nicht die Handels- und Gewerbefreiheit als besonderes Wirtschaftsgrundrecht. Ein solches hatten die Verfassungen Frankreichs zeitweise enthalten (1793, Artikel 17, und, als Teil einer weitgefassten Eigentumsgarantie, 1795, Artikel 5). Weniger weit gehend als diese Vorbilder, beschränkte sich die helvetische Verfassung von 1798 auf die Garantie des mit der Handels- und Gewerbefreiheit eng verwandten Eigentums (Artikel 9). Die später folgende Gesetzgebung schützte dann auch – eingedenk der Erfahrungen einiger Kantone mit der eng geordneten Zunftwirtschaft – die Handels- und Gewerbefreiheit. Hingegen scheiterten alle Versuche der helvetischen Regierung, die Binnenzölle an den wichtigen Verkehrswegen abzuschaffen, den Aussenzoll zu vereinheitlichen und so einen Binnenmarkt herbeizuführen.

Erst die Mediationsakte von 1803 brachte eine Liberalisierung des Zollwesens (Kapitel XX, Artikel 5 und 6). Neue Binnenzölle durften nicht mehr eingeführt und die in Kraft stehenden mussten jährlich von der Tagsatzung bestätigt werden. Im Übrigen war die Handels- und Gewerbefreiheit in der Mediationsakte ausdrücklich geschützt (zusammen mit der Niederlassungsfreiheit, Kapitel XX, Artikel 4). Der Bundesvertrag von 1815 stellte dann allerdings die Souveränität der Kantone in wirtschaftlichen Belangen fast vollständig wieder her.

Ab 1830 begannen die Kantone, Gewährleistungen der Handels- und Gewerbefreiheit in ihre Verfassungen aufzunehmen. Die Bundesverfassung von 1848 ermächtigte den Bund, die Binnenzölle abzubauen (Artikel 24 und 27), und garantierte ausserdem die Freiheit des Handels, wenn auch vorerst nur über die Kantonsgrenzen hinweg und nicht innerhalb der einzelnen Kantone (Artikel 29). So konnte sich die Zunftordnung in einigen Kantonen der deutschen Schweiz noch eine Zeitlang behaupten, zum Beispiel in Basel-Stadt bis 1874. Weiter brachte die erste Bundesverfassung allen Schweizern, soweit sie einer der christlichen Konfessionen angehörten (Artikel 41), die Niederlassungsfreiheit. Den Juden blieb die neue Freiheit mit ihren Entfaltungsmöglichkeiten zunächst verschlossen.

Nachdem die konfessionelle Einschränkung der Niederlassungsfreiheit 1866 aufgehoben worden war, gewährleistete die zweite Bundesverfassung von 1874 die Handels- und Gewerbefreiheit endgültig als Grundrecht (Artikel 31). Seitdem haben entsprechende kantonale Verfassungsbestimmungen bloss noch hinweisenden und, wo sie über die Bundesverfassung hinausgehen, ergänzenden Charakter. Gestützt auf die neue Verfassung wurde 1881 das alte Obligationenrecht (OR) erlassen, das einen ersten Schritt zur gesamtschweizerischen Regelung des privaten Wirtschaftsverkehrs darstellte.

Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Einen weiteren Ausbau des Handelsrechts brachte das neue, zusammen mit dem Zivilgesetzbuch (ZGB) in Kraft tretende OR von 1911. Sein handelsrechtlicher Teil – das Unternehmens-, Gesellschafts- und Wertpapierrecht – sollte 1936 grundlegend und 1991 im Bereich des Aktienrechts revidiert werden.

Obwohl die Grundidee der Handels- und Gewerbefreiheit von Anfang an eine Garantie des freien Wettbewerbs voraussetzte, lag in der Verfassungswirklichkeit zunächst der Akzent auf der Freiheit der Unternehmen. Diese schloss gemäss dem damaligen Verständnis das Recht ein, den Wettbewerb durch Unternehmensabsprachen und Kartelle auszuschalten; noch die Wirtschaftsartikel vom 6. Juli 1947 sahen kein Kartellverbot, sondern lediglich Massnahmen gegen deren "volkswirtschaftlich oder sozial schädlichen Auswirkungen" vor (Artikel 31bis Absatz 3 Bundesverfassung 1874). Auf dieser Konzeption beruhten auch die Kartellgesetze von 1962 und 1985. Der Akzentsetzung auf die unternehmerischen Aspekte der Wirtschaftsfreiheit entspricht, dass diese als Individualrecht ausser den natürlichen auch den juristischen Personen, insbesondere den Gesellschaften des Handelsrechts, zusteht.

Den Paradigmawechsel zum – politisch lange Zeit umstrittenen – stärkeren Schutz des Wettbewerbs vollzog der Gesetzgeber erst mit dem Kartellgesetz von 1995, das grundsätzlich alle Preis-, Mengen- und Marktaufteilungsabreden (unter Vorbehalt von Rechtfertigungsgründen) verbietet und eine Fusionskontrolle vorsieht. Diesem Paradigma folgte auch die dritte Bundesverfassung von 1999, indem sie nicht nur die Handels- und Gewerbefreiheit, jetzt als "Wirtschaftsfreiheit" (Artikel 27), und die Verfassungsgrundlage für das Wettbewerbsrecht (Artikel 96) gewährleistet, sondern den Wettbewerb ausdrücklich als Schutzgut der Wirtschaftsfreiheit erwähnt (Artikel 94 Absatz 4).

Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheit sind grundsätzlich zulässig (Artikel 36). Sie haben meist polizeiliche Gründe (Abwehr von Gefahren, Schutz von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr), wie etwa die Aufsicht über Banken und Versicherungen (Artikel 98). Gesetzliche Wettbewerbsbeschränkungen setzen eine Grundlage in der Bundesverfassung selbst oder kantonale Regalien voraus (Artikel 94 Absatz 4). Solche Beschränkungen sind beispielsweise in der Agrarpolitik, in der Aussenwirtschaftspolitik und in gewissen Bereichen der Konjunkturpolitik in Kraft.

Quellen und Literatur

  • A. Kölz, Quellenbuch zur neueren schweiz. Verfassungsgesch., 2 Bde., 1992-96
  • H. Bauer, Von der Zunftverfassung zur Gewerbefreiheit in der Schweiz, 1798-1874, 1929
  • H. Marti, Die Wirtschaftsfreiheit der schweiz. Bundesverfassung, 21976
  • R. Rhinow, «Art. 28-31bis und 31quater BV», in Kommentar zur Bundesverfassung der Schweiz. Eidgenossenschaft, hg. von J.-F. Aubert et al., 1988-91
  • U. Pfister, «Protoindustrialisierung», in Geschichtsforschung in der Schweiz, 1992, 67-78
  • E. Grisel, Liberté du commerce et de l'industrie, 2 Bde., 1993-95
  • C. Winzeler, «Die Wirtschaftsfreiheit in der schweiz. Verfassungsgesch. des 19. und 20. Jh.», in ZSR NF 113 II, 1994, 409-432
  • R. Rhinow et. al., Öffentl. Wirtschaftsrecht, 1998, 27-57
  • P. Caroni, "Privatrecht": Eine sozialhist. Einführung, 21999
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler; Christoph Winzeler: "Handels- und Gewerbefreiheit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.11.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/047142/2007-11-27/, konsultiert am 19.03.2024.