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Landrechte

Die Landrechte (mittelhochdeutsch lantreht, lantzrecht) gehörten zu den vielen Rechtsordnungen im territorialen Bereich, die teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein galten. Im deutschsprachigen Raum bedeutete Landrecht primär die (objektive) Rechtsordnung des Landes bzw. eines Territoriums. Die Landrechte sind von den Rechtsordnungen anderer Rechtskreise wie zum Beispiel den Stadtrechten, Dorfrechten und Hofrechten zu unterscheiden, die andere Inhalte thematisierten und daher im deutschen Recht (Germanisches Recht) und von der deutschsprachigen Rechtsgeschichte stets als eigene Rechtsgruppen gesondert behandelt wurden. Weil die Rechtsterminologie im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit ausserordentlich variabel und elastisch war, taucht der Ausdruck Landrechte auch in anderen Zusammenhängen auf: So wurden zum Beispiel häufig Bündnisse, Schirm- und Schutzverträge oder Burgrechte als Landrechte bezeichnet. Zudem galt der Begriff Landrechte ab dem 16. Jahrhundert für den (subjektiven) Rechtsstatus eines in dem betreffenden Land bzw. der Landvogtei oder dem Amt vollberechtigten Niedergelassenen, ferner für das Niederlassungsrecht bzw. die Niederlassungsgebühr.

Anders als die Deutschschweiz unterschieden Süd- und Westschweiz nicht zwischen Land- und Stadtrechten. Während der in der französischen Schweiz gebräuchliche Begriff coutumes générales, abgeleitet von lateinisch consuetudo (Brauch, Gewohnheit), die gewohnheitsrechtliche Komponente des savoyischen Rechts der Waadt, des Unterwallis und Genfs betont und generell die Rechtsordnungen von Stadt, Dorf und Land umfasst, stellt der in der Südschweiz übliche Terminus Statuti, abgeleitet von lateinisch statuere (festsetzen, anordnen) und statuta (statutum Verfassung, Recht, Statut), die satzungsrechtlichen Aspekte des dortigen lombardischen Rechts in den Vordergrund. Trotz der begrifflichen Unterschiede enthalten alle diese territorialen Rechtsordnungen über Sprachgrenzen hinweg sowohl tradiertes Gewohnheitsrecht wie auch Satzungsrecht.

Im 19. Jahrhundert fand in der Deutschschweiz der von der deutschen Rechtswissenschaft geschaffene Begriff Statutarrecht Eingang in die Rechtsterminologie zur pauschalen Bezeichnung von Ortsrechten (Land-, Stadt-, Amts-, Lokalrechte). Der Begriff wurde sowohl von den kantonalen Gesetzgebern, die sich mit der Abschaffung der Landrechte befassten, wie auch von schweizerischen Rechtshistorikern verwendet.

Entstehung und Inhalt

Der in den Germanischen Stammesrechten wie zum Beispiel den Alemannenrechten oder den Burgunderrechten überlieferte Begriff Landrechte bezog sich noch nicht auf ein Territorium. Erst als ab dem 12. Jahrhundert das Bedürfnis wuchs, Frieden und Recht zwar im Verband des Reichs und unter Reichsrecht, jedoch kleinräumiger abzusichern, führte dies zur Entstehung von Stadtrechten auf Stadtboden und Landrechten in Ländern und Landregionen. Entsprechend ihrem Geltungsbereich unterschieden sich zwar deren Inhalte, doch wuchsen sie in gleicher Weise über längere Zeit zu Rechtssammlungen an, die auf schriftlich wie auf mündlich tradiertem Recht beruhten.

Im Gebiet der Schweiz grenzten sich ab dem 12. und 13. Jahrhundert Landschaften, Talschaften und Städte allmählich als eigene Rechtskreise voneinander ab. Den städtischen Bürgerschaften vergleichbar, wurden ländliche Gerichtsgemeinden zu Schwurgenossenschaften zum Zwecke der Friedenssicherung, wobei diesen zum Teil herrschaftliche Beamte (Landgraf, Vogt, Kastellan, Ammann, Propst) vorstanden. Im alpinen Raum kam das Streben nach Selbstständigkeit hinzu. Bäuerliche Talgemeinden, vor allem jene auf Reichsland in der Innerschweiz und im Berner Oberland, suchten sich vom 13. Jahrhundert an dem Zugriff ihrer Herren zu entziehen. Sie erwirkten für sich königliche und kaiserliche Freiheitsbriefe, in denen ihnen die Reichsunmittelbarkeit gewährt wurde (Uri 1231, Schwyz 1240). Ausserdem gingen die Talgemeinden mit Städten des Unterlandes Bündnisse ein (z.B. Unterwalden 1241, Frutigen 1260, Haslital 1275). So bildeten sich grossräumige Land- und Städtebünde, ähnlich den Landfriedensbünden in den Deutschen Landen – in der Westschweiz die Burgundische Eidgenossenschaft (ab 1243), in der Ostschweiz Städtebünde um den Bodensee (ab 1312) und im alpinen Raum die Eidgenossenschaft der Waldstätte 1291, im 14. Jahrhundert die Oberwalliser Zenden, der Gotteshausbund, der Graue Bund sowie der Zehngerichtenbund.

Privilegien und Bündnisverträge in Urkundenform standen somit am Anfang der eigenen Rechtsordnung vieler Landgebiete. Vom 14. Jahrhundert an beriefen sich Landschaften auf ihr hergebrachtes Landrecht und liessen sich dieses bei Herrschaftswechseln als «Freiheit und alte gute Gewohnheit», d.h. als Privilegien und Gewohnheitsrecht, vom neuen Herrn bestätigen. Zu diesem Zeitpunkt lagen die einzelnen Landrechte aber selten als ein Ganzes vor, sondern bestanden aus den genannten Vorrechten und Verträgen, auch aus schriftlichen Satzungen, im Gericht von Tal- oder Landleuten erlassen oder von der Herrschaft dekretiert, sowie aus mündlich überliefertem Gewohnheitsrecht. Bei der Verschriftlichung ihres Rechts gingen die Städte (Stadtrechte ab 12. Jh.) und Grundherrschaften (Offnungen ab 14. Jh.) den Landschaften voraus, deren Landrechte mehrheitlich erst im 15. und 16. Jahrhundert unter der Ägide der Landesobrigkeiten aufgezeichnet wurden. Amtliche Schreiber fassten die lokalen Rechte und Gewohnheiten in Urkundenform zu unsystematischen und oft unvollständigen Sammlungen zusammen. Dabei dominierten Bestimmungen des Zivil- (Erb-, Ehegüter-, Güter-, Pfandrecht), des Straf- und Prozessrechts, vor allem aber Rechtssätze zur Ordnung der ländlich-bäuerlichen Rechts- und Friedensgemeinschaft. Je nach Herrschaftsstruktur waren die Landrechte genossenschaftlich, wie zum Beispiel das Frutiger von 1445, oder herrschaftlich, wie das Interlakner von 1521/1529, geprägt.

Entwicklung

"Des iüngsten suns recht zuo sins vatters besitzung" (das Recht des Jüngsten, das väterliche Erbe zu übernehmen). Erbrechtsartikel aus der Emmentaler Landsatzung von 1559, offizielle Ausfertigung durch den deutschen Säckelschreiber Seth Noë Wölflin (Staatsarchiv Bern).
"Des iüngsten suns recht zuo sins vatters besitzung" (das Recht des Jüngsten, das väterliche Erbe zu übernehmen). Erbrechtsartikel aus der Emmentaler Landsatzung von 1559, offizielle Ausfertigung durch den deutschen Säckelschreiber Seth Noë Wölflin (Staatsarchiv Bern). […]

Ab dem 16. Jahrhundert nahmen die Landesobrigkeiten das Aufsichts-, Abänderungs- und periodische Bestätigungsrecht für sich in Anspruch (Territorialherrschaft); die Regierungen setzten sich allerdings nicht überall in gleichem Masse durch. Obrigkeitliche Kanzleien legten nach städtischem Vorbild Sammlungen der Landrechte in Buchform an, die als Land-, Lands-, Landrechts- oder Satzungsbücher bezeichnet werden. Mit der Einführung einer systematischen Gliederung erfolgte zumeist eine Überarbeitung. Wo Lücken bestanden, wurden die Landrechte durch Stadt- oder Herrschaftsrecht ergänzt, wodurch dieses als Subsidiärrecht die lokalen Landrechte mehr und mehr überlagerte: In der Emmentaler Landsatzung von 1559 dominierte beispielsweise das stadtbernische Recht das lokale im Verhältnis 3:1. Das Stadt- oder Herrschaftsrecht nahm so mehr und mehr die Stellung eines im ganzen Territorium geltenden «Landesrechts» ein.

In den geistlichen Fürstentümern St. Gallen und Basel kam es zu einer Rechtsvereinheitlichung. Diese setzte in St. Gallen im 15. Jahrhundert mit der Einführung einer einzigen Landsatzung für den ganzen Klosterstaat ein, analog der Rechtsentwicklung in den benachbarten deutschen Territorien. Im Fürstbistum Basel verdrängte vom 16. Jahrhundert an bischöfliches Landesrecht zunehmend die in coutumiers oder rôles überlieferten lokalen Rechte. Die Ortsrechte von Biel, La Neuveville und des Tessenbergs standen dagegen unter bernischem Einfluss.

Die Stadt Bern, Landesherrin in der Waadt, respektierte deren andersartige Rechtsüberlieferung. Sie vereinheitlichte zwar die lokalen coutumes im 1577 geschaffenen Coutumier de Vaud, löste diesen aber durch die von einer Waadtländer Juristenkommission erarbeiteten Loix et Statuts du Pays de Vaud (1616/1618 zweisprachig gedruckt) ab. Im Unterschied zu diesem umfassenden Werk blieb das von den regierenden Orten in der gemeinen Herrschaft Thurgau erlassene Landesrecht eine bloss rudimentäre Sammlung einzelner Abschiede und Ordnungen.

In den Waldstätten, den beiden Appenzell und in Glarus, zum Teil auch in den drei Bündner Teilstaaten, entwickelten sich die Landrechte selbstständig weiter: Durch Fortführung des laufend revidierten Landbuches wandelten sie sich zum Landesrecht. Im Wallis wurden 1571 die Statuta Patriae Vallesii, die auf einer Sammlung spätmittelalterlicher Landrechte beruhten, zum Landesrecht, doch behielten daneben lokale Zendenrechte ihre Geltung.

Die Helvetik suspendierte 1798 formell alle Landrechte; die Mediation stellte sie 1803 wieder her, soweit sie mit der jeweiligen Kantonsverfassung vereinbar waren. Da die Kantone, die nach dem Scheitern der Helvetischen Republik mit der legislativen Gewalt auch die Hoheit über das Gerichtswesen erlangten, nunmehr begannen, eigene Strafgesetzbücher zu kodifizieren (Kodifikation, Strafrecht), traten die strafrechtlichen Bestimmungen der Landrechte nach und nach ausser Kraft. Mit der Vereinheitlichung der kantonalen Zivil- und Prozessrechtsordnungen wurden die Landrechte zunehmend obsolet. Ab 1850 wurden sie schrittweise aufgehoben; Gewohnheitsrecht überlebte zum Teil in Form von Ortsbräuchen. In jenen Länderorten, wo Landrechte zum Staatsrecht geworden waren, erfuhren diese im Rahmen der Weiterentwicklung der Kantonsverfassung eine Modernisierung.

Quellen und Literatur

  • SSRQ, 2. Tl., Rechte der Landschaft, 1903-
  • H. Rennefahrt, Grundzüge der bern. Rechtsgesch., 4 Bde., 1928-36
  • C. Soliva, Das Eidg. Stadt- und Landrecht des Zürcher Bürgermeisters Johann Jakob Leu, 1969
  • P. Caroni, Einflüsse des dt. Rechts Graubündens südl. der Alpen, 1970
  • W. Müller, Landsatzung und Landmandat der Fürstabtei St. Gallen, 1970
  • P. Blickle, Landschaften im alten Reich, 1973
  • W. Kundert, Die Zivilgesetzgebung des Kt. Thurgau, 1973
  • HRG 2, 1527-1535
  • H.C. Peyer, Verfassungsgesch. der alten Schweiz, 1978
  • Dt. Rechtswb. 8, 1984-91, 547-555
  • P. Bierbrauer, Freiheit und Gem. im Berner Oberland 1300-1700, 1991
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Landrechte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.09.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/047691/2008-09-09/, konsultiert am 19.03.2024.