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Sonderfall

Allegorische Darstellung der Neutralität als Staatsmaxime. Radierung von Johannes Meyer aus dem Neujahrsblatt der Constaffler und Feuerwerker im Zeughaus, Zürich 1704 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Allegorische Darstellung der Neutralität als Staatsmaxime. Radierung von Johannes Meyer aus dem Neujahrsblatt der Constaffler und Feuerwerker im Zeughaus, Zürich 1704 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Der analytisch wenig präzise Begriff Sonderfall, über dessen Aufkommen und Popularisierung wenig bekannt ist, geht davon aus, dass der Schweiz aufgrund ihrer Geschichte und Kultur eine einzigartige Stellung mit Vorbildcharakter innerhalb der Staatenwelt zukommt. Die Wahrnehmung eines Sondercharakters ergibt sich in erster Linie aus dem Vergleich mit den Nachbarstaaten, d.h. aus dem Gegensatz zwischen klein und gross, republikanisch und monarchistisch, vielfältig und einheitlich in sprachlicher und religiöser Hinsicht. Das Sonderfalldenken bezieht sich auch auf die Besonderheit der Landschaft und des Klimas (v.a. der Alpen) und deren vermeintlichen Auswirkungen auf die Mentalität der Menschen. Ferner umschliesst es Tugenden wie Arbeitsfreudigkeit, Sparsamkeit, Sauberkeit und Vertragstreue, die zwar nicht exklusiv beansprucht, aber doch als besonders ausgeprägt verstanden werden. Seine politische und soziale Funktion besteht darin, abzugrenzen und hervorzuheben, und dient indirekt dazu, internationale oder universale Standards nicht übernehmen zu müssen.

Da sich letztlich jeder Staat, jede Gesellschaft in ihren Selbstbildern auf Eigenheiten oder historische Sonderwege beruft, handelt es sich beim Sonderfalldenken um ein ideologisches Konstrukt zur Charakterisierung der eigenen Nation. Auch wenn sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein frühes eidgenössisches Sonderverständnis manifestierte (Befreiungstradition), gehört die Vorstellung des Sonderfalls Schweiz zum politischen Vokabular im Umfeld der Festigung und Verteidigung des Bundesstaats im 19. und 20. Jahrhundert. Im Übrigen ist es ein ausgesprochen deutschschweizerischer Begriff, der im Französischen und Italienischen keine Entsprechung kennt und deshalb in der deutschen Form in diesen Sprachen verwendet wird.

Französische Ausgabe des Katalogs zur Ausstellung "Sonderfall?" im Schweizerischen Landesmuseum, 1992.
Französische Ausgabe des Katalogs zur Ausstellung "Sonderfall?" im Schweizerischen Landesmuseum, 1992. […]

Eine erste Konjunktur erlebte das Sonderfalldenken im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zug des sogenannten nation building, als sich in der Schweiz das Bewusstsein für den eigenen Nationalstaat in Abgrenzung zu seinen europäischen Nachbarn festigte. Es kristallisierte sich ein Bild der Schweiz heraus, in dem der Sonderfall einen festen Bestandteil der nationalen Identität bildete. Davon zeugt die bekannte, 1914 gehaltene Rede «Unser Schweizer Standpunkt» von Carl Spitteler, mit der sich dieser zu Beginn des Ersten Weltkriegs für die Einheit der neutralen Schweiz einsetzte. In den 1930er und 1940er Jahren griffen auch die Verfechter der Geistigen Landesverteidigung unter anderem auf das Sonderfalldenken zurück, um sich von den totalitären Ideologien abzugrenzen. Auf die von der europäischen Integration ausgehenden Herausforderungen der Nachkriegszeit reagierte Herbert Lüthy in seinem Essay «Die Schweiz als Antithese» (1963, französisch 1961) stellvertretend für viele mit dem Hinweis auf die «schweizerische Gegenläufigkeit». Gleichzeitig sahen zahlreiche Politiker und Intellektuelle in der Schweiz mit ihrem Föderalismus, der direkten Demokratie und Mehrsprachigkeit ein Modell für die zukünftige Entwicklung Europas. Gegenüber der sogenannten Dritten Welt bestand ebenfalls die Auffassung, die Schweiz geniesse wegen ihrer Neutralität, humanitären Tradition und angeblich fehlenden kolonialen Vergangenheit einen Sonderstatus unter den westlichen Staaten. Bis in die 1970er Jahre blieb der Begriff Sonderfall positiv besetzt. Dann sahen die Achtundsechziger Bewegung und gesellschaftskritische Kreise in ihm ein rückwärts gewandtes Geschichtsbild und eine veraltete Vorstellung über die Rolle der Schweiz in der Welt. Seit der Abstimmungdebatte über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum zu Beginn der 1990er Jahre mehren sich wieder die vor allem nationalkonservativen Stimmen, die das Phänomen Sonderfall Schweiz würdigen und verteidigen.

Quellen und Literatur

  • D. Frei, Neutralität – Ideal oder Kalkül?, 1967
  • K.W. Deutsch, Die Schweiz als ein paradigmat. Fall polit. Integration, 1976
  • E. Bonjour, «Gibt es noch einen Sonderfall Schweiz?», in Schweizer Monatshefte 61, 1981, 679-692
  • Sonderfall?, Ausstellungskat. Zürich, 1992
  • Sonderfall Schweiz, hg. von T.S. Eberle, K. Imhof, 2007
  • P. Widmer, Die Schweiz als Sonderfall, 2007
  • F. Walter, «La Suisse comme île», in Tour de France, 2008, 419-428
Weblinks

Zitiervorschlag

Georg Kreis: "Sonderfall", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.12.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/049556/2012-12-20/, konsultiert am 19.03.2024.