Autorin/Autor:
Patrick Kupper
Unfälle unterbrechen abrupt den sogenannt normalen Ablauf und wirken zerstörerisch. Technische Unfälle werden einerseits durch das Fehlverhalten von Technologien, andererseits durch menschliches Versagen bei der Anwendung von Technologien verursacht. Sie entfalten ihr Schadenspotenzial häufig gerade infolge einer Verkettung natürlicher Extremereignisse mit der Überlastung technischer Systeme und den unangemessenen Reaktionen von mit der Situation überforderten Menschen, weshalb auch deren Abgrenzung zu Naturkatastrophen porös ist. Synonym werden Begriffe wie Katastrophe, Desaster oder Havarie verwendet. In gewissen Bereichen, etwa der Kerntechnik und der chemischen Industrie, wird zudem aufgrund der Reichweite des eingetretenen Schadens ex post zwischen Unfällen und weniger gravierenden Störfällen unterschieden. Die Geschichte der technischen Unfälle ist nur in Ansätzen erforscht, eine systematische historische Behandlung fehlt bislang nicht nur für die Schweiz.
Ein Charakteristikum technologiebasierter Gesellschaften
Autorin/Autor:
Patrick Kupper
Technische Unfälle sind so alt wie die Technik und damit wie die menschliche Kultur. Mit der Entwicklung, Verbreitung und vermehrten Anwendung leistungsfähigerer Maschinen seit der Industrialisierung ist ihr Schadenspotenzial jedoch gewachsen. Eine weitere – vielleicht sogar exponentielle – Steigerung des Schadenspotenzials bewirkte die bereits im 19. Jahrhundert einsetzende Vernetzung von Technologien in grosstechnischen Systemen (Eisenbahn, Luftfahrt, Elektrifizierung, Informatisierung). Aufgrund der Abhängigkeit von technischen Systemen und deren Fehleranfälligkeit wurden moderne Gesellschaften als spezifisch verletzlich (Wiebe E. Bijker) oder als Risikogesellschaften (Ulrich Beck) charakterisiert. Die steigende Komplexität technischer Systeme erschwert deren Beherrschung zunehmend, da Systemelemente in einer in ihrer Vielfalt nicht vorhersehbaren Weise miteinander agieren können. Nach Charles Perrow gehören technische Unfälle daher zur Normalität moderner technologiebasierter Gesellschaften. Dem gegenüber betont Henry Petroski die Lernprozesse, die solche Ereignisse immer wieder auslösten und die letztlich die Sicherheit erhöhten. Aufgrund sowohl fortlaufender technischer Innovationen als auch der grossen Diversität in der Anwendung von Technologien handelt es sich dabei um einen unabschliessbaren Prozess, wobei verbesserte Sicherheitstechniken oft neue Anwendungsmöglichkeiten eröffnen, welche wiederum neue Risiken in sich tragen. Ob technische Unfälle und Opferzahlen in der Moderne generell zu- oder abgenommen haben, lässt sich daher und aufgrund fehlender Datengrundlage nicht beantworten.
Illustration zur Brandkatastrophe auf der Baustelle des Hauensteintunnels vom 28. Mai 1857. Xylografie "Auffindung der ersten 31 Todten im Schacht Nr. 1" nach einer Zeichnung von Heinrich Jenny, erschienen in Die Gartenlaube, illustrirtes Familienblatt, 1857, Heft 28, S. 389 (Bayerische Staatsbibliothek, Münchener DigitalisierungsZentrum).
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Illustration zur Brandkatastrophe auf der Baustelle des Hauensteintunnels vom 28. Mai 1857. Xylografie "Die Beerdigung der letzten 21 Verschütteten" nach einer Zeichnung von Heinrich Jenny, erschienen in Die Gartenlaube, illustrirtes Familienblatt, 1857, Heft 29, S. 405 (Bayerische Staatsbibliothek, Münchener DigitalisierungsZentrum).
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Prävention
Autorin/Autor:
Patrick Kupper
Um das Schadenspotenzial technischer Unfälle einzugrenzen, haben moderne Gesellschaften eine ganze Reihe von Techniken und Institutionen entwickelt und geschaffen. Der Staat und die Privatwirtschaft verankerten in Gesetzen und Vereinbarungen zahlreiche Regulierungen und Kontrollen und schufen ein ausgebautes Prüfungs- und Zulassungswesen. Die Einhaltung dieser Normen wurde ebenfalls in einem auf korporatistischen Prinzipien beruhenden Zusammenspiel von staatlichen und privaten Akteuren, wie etwa dem 1869 nach badischem Vorbild gegründeten Schweizerischen Verein von Dampfkessel-Besitzern (ab 1975 Schweizerischer Verein für Druckbehälterüberwachung SVDB, seit 1994 Schweizerischer Verein für technische Inspektionen SVTI), überwacht. Zu den vorbeugenden Massnahmen zählen weiter die Unfallversicherungen und damit zusammenhängende Risikokalkulationen sowie staatliche und betriebliche Präventionsmassnahmen und Notfallorganisationen. Technische Unfälle haben zu dieser Einhegung von Technologien beigetragen, indem sie deren Risiken sichtbar machten und so in gesellschaftliche Problemlagen transformierten.
Technische Unfälle in der öffentlichen Debatte
Autorin/Autor:
Patrick Kupper
Entscheidend für die gesellschaftliche Wirkung technischer Unfälle ist die historische Konstellation, in der sie sich ereignen. Solche Unfälle können Prozesse in Gang setzen, beschleunigen oder abwürgen, vorhandene Kräfte stärken oder schwächen, sie können aber auch einfach spurlos vorbeigehen, wenn sich keine Akteure ihrer annehmen. Der objektive Schaden, den ein technischer Unfall verursacht, ist nur ein Faktor unter vielen, der seine Deutung steuert. Ebenso wichtig sind der Stellenwert der fehlgegangenen Technologie, die gesellschaftliche Akzeptanz von Technik im Allgemeinen und der Unfalltechnologie im Speziellen sowie die vorhandenen Kommunikationsmedien und wie sie eingesetzt werden. Der Brand und der Absturz des Luftschiffs Hindenburg bei der Landung in Lakehurst (New Jersey, USA) 1937 mit 36 Todesopfern sowie die Explosion der Raumfähre Challenger kurz nach dem Start 1986 mit 7 Todesopfern hinterliessen wegen deren Live-Übertragung im Radio bzw. Fernsehen tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis. Der Untergang der Titanic 1912 mit 1514 Todesopfern wurde gar zu einem vielfach referierten und inszenierten Lehrstück menschlicher Hybris. Leittechnologien genossen jeweils besondere, nationale Grenzen überschreitende Aufmerksamkeit; so sorgten Eisenbahnunfälle im 19. und Flugzeugabstürze im 20. Jahrhundert für Schlagzeilen.
Im Gefolge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Atomenergie stiessen Unfälle in Atomkraftwerken (Three Mile Island 1979, Tschernobyl 1986, Fukushima 2011) auf weltweiten Widerhall. Sie untergruben zum einen die Akzeptanz dieser Technologie weiter, führten aber zum anderen auch national und international zu Sicherheitsprüfungen und -nachrüstungen. Weniger spektakuläre, aber gehäuft auftretende technische Unfälle, etwa im Individualverkehr, am Arbeitsplatz oder im Freizeitsport, wurden durch staatliche Regulierungen und den Ausbau des Versicherungswesens angegangen und dadurch zugleich gesellschaftlich normalisiert. Auch in diesem Bereich ist eine Internationalisierung von Normen und Verfahren zu beobachten. Zur erfolgreichen gesellschaftlichen Bewältigung der technischen Unfälle gehört schliesslich die Professionalisierung der Ursachenforschung, die sich aufgrund des oft hohen Zerstörungsgrads mitunter als schwierig erwies. Um sie zu erleichtern, wurden etwa ab den 1960er Jahren Aufzeichnungsgeräte wie Flug- und Fahrtenschreiber bzw. deren Einbau zur Norm.
Technische Unfälle seit 1848
Autorin/Autor:
Patrick Kupper
Das schwerwiegendste Eisenbahnunglück in der Schweiz mit 74 Todesopfern und 171 Verletzten ereignete sich am 14. Juni 1891, als eine Brücke über die Birs in Münchenstein unter der Last eines vollbesetzten Personenzugs zusammenbrach. Als Ursache des Kollapses machten die mit der Aufklärung betrauten Professoren des damaligen Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich Konstruktionsfehler und den Einsatz von Eisen und Stahl mit ungenügenden Eigenschaften aus. Der Unfall stärkte die 1879 am Polytechnikum gegründete Anstalt zur Prüfung von Baumaterialien (heute Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA).
Luftbild der Absturzstelle einer Swissair-Maschine bei Dürrenäsch am 4. September 1963 (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne, LM-118001.1).
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Am 4. September 1963 stürzte eine Swissair-Maschine kurz nach dem Start in Kloten bei Dürrenäsch ab, nachdem sich im Fahrwerkschacht ein Feuer entwickelt hatte. Alle 80 Menschen an Bord starben. 43 Opfer stammten aus Humlikon, das somit auf einen Schlag einen Fünftel seiner Einwohner verlor. Es blieb der schwerste Unfall eines Schweizer Flugzeugs, bis der Absturz einer Swissair-Maschine am 2. September 1998 in den Atlantik bei Halifax (Nova Scotia, Kanada) 229 Opfer forderte.
Unmittelbar nach Aufnahme des regulären Betriebs führten korrodierte Brennelemente im Kernreaktor der Versuchsanlage in Lucens am 21. Januar 1969 zu einer Überhitzung, die in einer teilweisen Kernschmelze gipfelte. In der öffentlichen Diskussion war das nukleare Risiko nur ein Randthema. Der offiziellen Interpretation, es habe nie Gefahr für die Bevölkerung bestanden und der Unfall habe letztlich das Funktionieren der Sicherheitssysteme unter Beweis gestellt, wurde nicht widersprochen. In den kurz darauf losbrechenden, heftigen Auseinandersetzungen um die Atomenergie spielte der Unfall keine Rolle.
Am 1. November 1986 brach ein Grossbrand im Industrieareal Schweizerhalle der Sandoz aus. Das nahegelegene Basel wurde von stinkenden Rauchwolken heimgesucht, während mit Pflanzenschutzmitteln belastetes Löschwasser ein Fischsterben im Rhein auslöste. Den enormen Widerhall, den dieses Ereignis in der Schweiz und international auslöste, lässt sich auch mit der Konjunktur grosser technischer Unfälle in jener Zeit erklären, wobei insbesondere die Chemie-Katastrophe im indischen Bhopal von 1984 als auch der GAU von Tschernobyl im Frühling desselben Jahres bedeutend waren (Chemische Industrie).
Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zu anderen Ländern in der Schweiz bislang keine Talsperren und Staumauern brachen oder überflutet wurden. Allerdings starben am 30. August 1965 88 Menschen, als eine Lawine die Baracken der Bauarbeiter der Staumauer Mattmark (Saastal) verschüttete.