13.4.1961 Sessa, katholisch, bis 2017 italienischer Staatsbürger, ab 1976 von Sessa. Arzt, Kantonsarzt, Tessiner Nationalrat, freisinniger Bundesrat.

Ignazio Cassis ist das dritte von vier Kindern des Luigi Daniele (genannt Gino) Cassis, Bauern und dann Versicherungsangestellten, und der Mariarosa geborene Locatelli, Hausfrau, aus Bergamo. Seine Grosseltern väterlicherseits übersiedelten 1930 von Luino nach Sessa, als Vater Luigi Cassis fünf Jahre alt war. Ignazio Cassis wuchs zusammen mit seinen drei Schwestern im Malcantone auf. Er legte 1980 die Matura an der Kantonsschule in Lugano ab und absolvierte ein Medizinstudium an der Universität Zürich, das er 1987 mit dem Arztdiplom abschloss. Er erwarb 1996 einen Master in Public Health an der Universität Genf, doktorierte 1997 an der Universität Lausanne und erlangte 1998 die eidgenössischen Facharzttitel für innere Medizin sowie für Prävention und Public Health. 1996 heiratete er die Radiologin Paola Rodoni; das Paar blieb kinderlos.
Cassis arbeitete 1988-1996 als Assistenzarzt in der Chirurgie, der inneren Medizin und der Sozial- sowie Präventivmedizin und war 1996-2008 als Tessiner Kantonsarzt sowie 2008-2012 als Vizepräsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) tätig. 2001-2017 nahm er zudem Lehraufträge über Fragen des Managements und der Verwaltung von Gesundheitssystemen an den Universitäten Bern, Lausanne, Zürich und der Svizzera italiana wahr. Er präsidierte verschiedene nationale Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens, so die Stiftungen Equam (Externe Qualitätsförderung in der ambulanten Medizin, 2010-2017) und Radix (Gesundheitsförderung und Suchtprävention, 2012-2017) sowie die Verbände Curaviva (Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter, 2012-2017) und Curafutura (ein Zusammenschluss von vier Krankenkassen, 2013-2017) .
Als Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) amtierte Cassis 2004-2014 als Gemeinderat von Collina d'Oro; auf kantonaler Ebene bekleidete er allerdings nie ein politisches Amt, weil dies seine Funktion als Kantonsarzt ausschloss. Nach einer erfolglosen Kandidatur bei den Wahlen 2003 rückte er 2007 als Ersatz für die zurückgetretene Laura Sadis, die wegen ihrer Wahl in die Kantonsregierung auf ihren Sitz verzichtete, in den Nationalrat nach; dieses Mandat verteidigte er jeweils bei den eidgenössischen Wahlen 2007, 2011 und 2015 (Bundesversammlung). Cassis blieb bis zu seiner Wahl in den Bundesrat Mitglied des Nationalrats, in dem er unter anderem als Vizepräsident (2013-2015) und Präsident (2015-2017) der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, als Mitglied (2010-2015) sowie Präsident (2010-2011) der Efta/EU-Delegation, als Vizepräsident der Parlamentarischen Gruppen Schweiz-Polen sowie Schweiz-Israel (beide 2011-2017) und als Co-Präsident der Parlamentarischen Gruppen Italianità (2011-2017) sowie Mehrsprachigkeit (2015-2017) fungierte. 2015 bis 2017 präsidierte er überdies die freisinnige Parlamentsfraktion.
Nach dem Rücktritt von Didier Burkhalter portierte die FDP Cassis als Bundesratskandidaten der italienischen Schweiz, die seit 1999 nicht mehr in der Landesregierung vertreten war. Wegen seiner engen beruflichen Beziehungen zu den Krankenkassen wurde er als Lobbyist der Krankenversicherer betrachtet, was ihn bei der Linken, insbesondere bei der Sozialdemokratischen Partei und den Grünen, unbeliebt machte. Cassis erfuhr aber als Wirtschaftsliberaler die geschlossene Unterstützung der politischen Rechten, insbesondere von Parlamentariern der Schweizerischen Volkspartei. Sein in diesem Kontext erfolgter Verzicht auf die italienische Staatsbürgerschaft, den einige Beobachter als Anbiederung an die Rechtspopulisten werteten, löste polemische Debatten aus. Am 20. September 2017 wurde Cassis im zweiten Wahlgang mit 125 Stimmen (bei einem absoluten Mehr von 123 Stimmen) in den Bundesrat gewählt; die beiden anderen Kandidierenden der FDP, der Genfer Staatsrat Pierre Maudet und die Waadtländer Nationalrätin Isabelle Moret, erhielten 90 bzw. 28 Stimmen.
Cassis übernahm von seinem Vorgänger Didier Burkhalter das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Als dessen Vorsteher beschäftigte er sich insbesondere mit dem Institutionellen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU). Am 26. Mai 2021 teilte der Bundesrat seinen Beschluss mit, die 2013 in Angriff genommenen Verhandlungen zu beenden, weil diese in drei entscheidenden Bereichen – Unionsbürgerrichtlinie (freier Zuzug von Staatsangehörigen der EU-Länder), Lohnschutz und staatliche Beihilfen – keine befriedigenden Ergebnisse gezeitigt hätten. Nach dem Scheitern des Institutionellen Abkommens setzte der Bundesrat für die Zukunft auf eine Wiederbelebung des bilateralen Wegs. Als der Chef des EDA (Aussenpolitik) 2019 für seine Unterstützung der in Afrika tätigen multinationalen Schweizer Unternehmen kritisiert worden war, regte er eine Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit an, die im Rahmen der Strategie der Internationalen Zusammenarbeit 2021-2024 (publiziert 2020) umgesetzt werden sollte. Zum Bundespräsidenten für das Jahr 2022 gewählt, sah sich Cassis mit den Folgen des Kriegsausbruchs in der Ukraine konfrontiert, wobei er sich in der in diesem Zusammenhang geführten Debatte über eine allfällige Neuinterpretation der schweizerischen Neutralität profilieren konnte.