Eine Kindswegnahme bedeutet stets einen Eingriff in die Familie. Dieser kann nur durch autorisierte Behörden erfolgen und muss begründet werden. Werden den Eltern die Kinder weggenommen, so hat dies zwingend eine Fremdplatzierung der Kinder zur Folge, die heute als ausserfamiliäre Unterbringung bezeichnet wird und die eine Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einer stationären Einrichtung, zumeist einem Kinder- oder Jugendheim, umfasst (Pflegekinder). Die Kindswegnahme erfolgt gegen den Willen der Eltern und setzt eine Kindeswohlgefährdung voraus. Eine Fremdplatzierung kann dagegen auch von den Eltern selbst oder mit ihrem Einverständnis veranlasst werden, etwa bedingt durch eine Krankheit oder aufgrund wirtschaftlichen Drucks.
Illustration des Kapitels Die Bettlergemeinde in der Ausgabe von 1937 des 1837 erschienenen Bauernspiegels von Jeremias Gotthelf. Holzschnitt von Emil Zbinden (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, N 40761).
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Wie Kinder aufwachsen (Kindheit), steht in engem Zusammenhang mit sozialen und politischen Vorstellungen von Familie, Gesellschaft und Staat und hat sich durch die Industrialisierung stark verändert. In modernen Gesellschaften gilt die Familie als idealer Ort des Aufwachsens und zugleich als Fundament des Staats. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts interessierten sich Fürsorgereformer neben verwaisten und ausserehelich geborenen Kindern (Waisen, Illegitimität) zunehmend für sogenannt verwahrloste Kinder. In den Debatten zur Kinder- und Jugendfürsorge etablierte sich die Vorstellung vom Recht des Kindes auf Erziehung. Daraus wurde die Pflicht der Eltern zur Erziehung und Bildung ihrer Kinder abgeleitet. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1874 verstärkte sich die Kontrolle der Familien (Schulwesen). Zudem stellte sich zunehmend die Frage nach den Fähigkeiten der Kinder. Zu deren Klärung stützten sich Fürsorge und Schule vermehrt auf wissenschaftliche Expertisen, die insbesondere im Umkreis urbaner Zentren immer öfter durch kinderpsychiatrische und schulpsychologische Dienste erfolgten.
Neben den «verwahrlosten» rückten im 20. Jahrhundert die «schwererziehbaren» und «schwachbegabten» Kinder, die aus der Regelschule ausgesondert und oft in Heimen (Erziehungsheime) untergebracht wurden, ins Zentrum der behördlichen Aufmerksamkeit (Hilfs- und Sonderschulen). Diese Kinder bedurften nach Ansicht der Fachleute einer besonderen Erziehung, wozu sie die Eltern als nicht befähigt erachteten. Das Ziel der Kinder- und Jugendfürsorge war «une jeunesse forte et utile au pays» («eine starke und für das Land nützliche Jugend»), wie dies Ulrich Wille,langjähriger Stiftungskommissionspräsident der Pro Juventute, formulierte. Kindswegnahmen wurden zum zentralen Instrument der Fürsorge und standen nicht selten im Zusammenhang mit weiteren fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, etwa der administrativen Versorgung der Eltern.
Heute gilt eine Kindswegnahme als letzte Massnahme; sie muss regelmässig überprüft werden. Auch hat sich das Verständnis des Kindeswohls stark verändert. Der deutliche Rückgang fremdplatzierter Kinder, insbesondere seit den 1970er Jahren, wird in der Forschung auch darauf zurückgeführt, dass mehr und unterschiedliche Betreuungsmöglichkeiten geschaffen wurden und seit 2013 in allen Kantonen interdisziplinäre Fachbehörden die Entscheide fällen. Noch immer gibt es jedoch keine systematische Erhebung fremdplatzierter Kinder in den Kantonen.
Eine Zäsur in der Kinder- und Jugendfürsorge stellt die Regelung des Kindesrechts im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1907 dar. Die neuen Bestimmungen galten als grosse Errungenschaft für den Kindesschutz. Sie ermöglichten neu einen präventiven Eingriff in die Familie, indem sie eine Kindswegnahme bereits bei einer Gefährdung oder «Verwahrlosung» des Kindes erlaubten, ohne den Eltern die elterliche Gewalt entziehen zu müssen. Die Massnahme wurde als Obhutsentzug bezeichnet.
Titel- und Doppelseite aus dem Schweizerischen Bundesblatt vom 21. Dezember 1907 (Bd. 6, Heft 54), in dem das erste Zivilgesetzbuch der Schweiz mit der gesetzlichen Grundlage für die Kindswegnahme publiziert wurde (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Die Ausgestaltung der Verfahren blieb weiterhin den Kantonen überlassen. Zudem war es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein möglich, aufgrund kantonaler Armen- und Strafgesetze sowie öffentlich-rechtlicher Verordnungen Kinder und Jugendliche ihren Familien wegzunehmen. Schliesslich sah auch das moderne Jugendstrafrecht, das im 1942 in Kraft getretenen Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB) geregelt ist, Erziehungsmassnahmen vor, deren einschneidendste die Heimunterbringung war.
Während das Vormundschaftswesen (Vormundschaft) in der Deutschschweiz zumeist wie im Tessin in die Kompetenz der Gemeinden fiel, war in der Westschweiz in der Regel der Kanton dafür zuständig. Auf dem Land waren die Behörden im Milizsystem organisiert. In einigen Kantonen unterstützten sie Jugendschutzkommissionen, in anderen übernahmen private oder konfessionelle Trägerschaften wie die Pro Juventute oder das Seraphische Liebeswerk die Vermittlung von Kindern in Pflegefamilien und Heime. In den Städten und in einigen Kantonen wurden Amtsvormundschaften und Jugendämter eingerichtet und Fürsorgerinnen angestellt (Sozialarbeit). Diese regionalen Eigenheiten und Entwicklungen wirkten sich neben den sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie den persönlichen Werthaltungen der entscheidenden Behördenmitglieder auf die Rechtspraxis aus. Über Kindswegnahmen entschieden die Kantone letztinstanzlich, während gegen den Entzug der elterlichen Gewalt vor Bundesgericht Beschwerde eingelegt werden konnte.
Aufgrund des präventiven Charakters des Gesetzes und der unbestimmten Rechtsbegriffe erhielten die Behörden weitreichende Kompetenzen. Demgegenüber war der Rechtsschutz von Eltern und Kindern mangelhaft. Das hing wesentlich mit den Verfahren, die keine Abklärungen durch die Rechtsmittelinstanzen vorsahen, und mit dem im Gesetz verankerten bürgerlichen Familienideal zusammen (Bürgertum). Dieses sah für den Vater die Rolle des Familienoberhaupts und Ernährers vor und delegierte die Haushaltsführung und Erziehung der Kinder an die Mutter (Geschlechterrollen). In besonderem Masse rechtlich benachteiligt waren unverheiratete Mütter, die erst mit der Revision des Familienrechts 1978 das elterliche Sorgerecht erhielten. Die Regelung des Pflegekinderwesens in der bundesrechtlichen Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (Pavo) verpflichtete im selben Jahr alle Kantone zur Aufsicht und Bewilligung von Pflegeverhältnissen. Ein Meilenstein zur Stärkung der Kinderrechte bildete die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UNO) 1997 durch die Schweiz. Sie beinhaltete unter anderem das Recht der Kinder auf Mitwirkung am behördlichen Verfahren. Seit der Totalrevision des Vormundschaftsrechts 2013 ist die Kindesschutzbehörde in allen Kantonen eine interdisziplinäre Fachbehörde.
Zielgruppen, Risikofaktoren und Folgen
Autorin/Autor:
Sara Galle
Die Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte Reglementierung des Kindesschutzes im ZGB und der damit verbundene Ausbau der Kinder- und Jugendfürsorge führten zu einer stark ansteigenden Zahl von Kindswegnahmen. Die Forschung sieht dies vor allem im verzögerten Ausbau des Sozialstaats und in der mangelhaften Versicherung sozialer Risiken begründet (Sozialversicherungen). Kindswegnahmen waren im 19. Jahrhundert im Kontext der Armenfürsorge verbreitet, sie dienten aber zunehmend auch zur Regulierung und Normalisierung des Sozialen (Sozialdisziplinierung). Dabei vermengten sich ökonomische mit disziplinarischen, sozialhygienischen und eugenischen Motiven (Eugenik). Das zeigt sich deutlich beim 1926 gegründeten «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute, die bis 1973 jenischen Familien (Jenische) mit Hilfe der Behörden fast 600 Kinder wegnahm, um sie zu sesshaften Menschen und in damaligen Worten zu «brauchbaren Gliedern» der Gesellschaft zu erziehen.
Knaben bei der Feldarbeit in der Armenerziehungsanstalt «Dorneren» ob Wattenwil. Fotografien von Walter Studer, 1954 (KEYSTONE / Walter Studer, Bild 220941328 und 220941338).
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Schätzungen gehen von Zehntausenden Minderjährigen aus, die bis in die 1980er Jahre fremdplatziert wurden. Besonders betroffen von Kindswegnahmen waren ledige Mütter, geringverdienende und arbeitslose Väter sowie Familien, die sich aufgrund von Scheidung, Trennung, Krankheit oder Tod eines Elternteils in prekären Situationen befanden. Nicht selten fanden Kindswegnahmen im Zusammenhang mit administrativen Versorgungen der Eltern statt. Die Lebenssituation der Kinder verbesserte sich durch den von den Fachleuten empfohlenen und von den Behörden angeordneten Milieuwechsel indes meist kaum. In den Pflegefamilien und Heimen waren sie oft schutzlos psychischer, physischer und sexueller Gewalt ausgeliefert. Sie konnten zudem kaum eine höhere Schule oder eine Berufsausbildung absolvieren. Das Ziel der vormundschaftlichen Praxis war nicht primär die in den Fürsorgedebatten geforderte Ausbildung der Jugendlichen. Es bestand vielmehr darin, dass diese ihren Lebensunterhalt verdienten und den Staat nicht belasteten. Hielten sich die Betroffenen nicht an die behördlichen Anordnungen, folgten oft weitere fürsorgerische Zwangsmassnahmen.
Das Hauptproblem der Kinder- und Jugendfürsorge bildeten die beschränkten finanziellen Mittel, die damit verbundene mangelhafte Professionalität sowie die ungenügende Aufsicht. Der verbesserte Schutz der Grundrechte, namentlich durch die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1974 und das 1999 in der Bundesverfassung (BV) verankerte Diskriminierungsverbot, trug wesentlich zum Ende der willkürlichen Praxis bei.
Öffentliche Kritik, historische Aufarbeitung und «Wiedergutmachung»
Autorin/Autor:
Sara Galle
Kindswegnahmen wurden im 20. Jahrhundert im Unterschied zu den wiederholt in den Medien bemängelten Zuständen in Heimen und Pflegefamilien kaum skandalisiert. Erstmals erregte zu Beginn der 1970er Jahre die systematische Wegnahme von Kindern aus jenischen Familien öffentliches Aufsehen. Betroffene waren ab den 1940er Jahren an die Medien gelangt, doch erst im Zuge der wiederaufflammenden Heimkritik (Anstaltswesen) wurde ihnen nicht nur Gehör, sondern auch Glauben geschenkt. 1973 musste die Pro Juventute das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» auflösen. Eine «Wiedergutmachung» setzte allerdings erst ein, nachdem sich Bundespräsident Alphons Egli 1986 bei den Betroffenen entschuldigt hatte.
Beitrag über die «Wiedergutmachungsinitiative» und den Gegenvorschlag des Bundesrats in der Tagesschau-Hauptausgabe des Fernsehens der deutschen Schweiz vom 4. Oktober 2016 (Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich, Play SRF).
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Noch viel länger mussten «Verding- und Heimkinder» und deren Eltern für die Anerkennung des ihnen zugefügten Leids und Unrechts kämpfen. 2013 entschuldigte sich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bei ihnen und setzte einen Runden Tisch zur Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein. Die eidgenössische Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)» brachte schliesslich Bewegung in den politischen Prozess und veranlasste 2015 den Bundesrat, mit einem Gegenvorschlag eine gesetzliche Grundlage für die Aufarbeitung zu schaffen. Seit 2017 können Betroffene ein Gesuch für einen sogenannten Solidaritätsbeitrag von 25'000 Fr. stellen. Als Minderjährige fremdplatzierte Personen müssen eine Verletzung ihrer physischen, psychischen oder sexuellen Integrität glaubhaft machen können. Die wissenschaftliche Aufarbeitung wurde vom Bund gefördert, etwa mit dem Nationalen Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» (NFP 76, 2018-2024), und die Kantone sind angehalten, Erinnerungsorte zu schaffen. Für viele Betroffene, insbesondere die Generation der Eltern, kommt diese Aufarbeitung spät. Ein Grossteil ist hochbetagt oder bereits verstorben. Auch kann der einmalige Beitrag ihre als Folge der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oft sozial, ökonomisch und gesundheitlich schwierige Lebenssituation nicht nachhaltig verbessern.
Gnädinger, Beat; Rothenbühler, Verena (Hg.): Menschen korrigieren. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Kanton Zürich bis 1981, 2018.
Businger, Susanne; Ramsauer, Nadja: «Genügend goldene Freiheit gehabt». Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950-1990, 2019.
Sara Galle: "Kindswegnahme", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.09.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/060530/2024-09-04/, konsultiert am 10.10.2024.