Rassismus bezeichnet eine Weltsicht, die im spätmittelalterlichen Europa entstand, sich seither stark wandelte und mit dem europäischen Imperialismus (Kolonialismus) weltweit ausbreitete. Sie gründet auf der Überzeugung, dass sich Menschen anhand körperlicher oder kultureller Merkmale oder ihrer Herkunft in kategorial unterschiedliche «Rassen» einteilen liessen, dass diese Gruppen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stünden und dass die eigene «Rasse» allen anderen überlegen und deshalb zur Herrschaft über «die Anderen» berechtigt sei. Rassismus gilt in der Forschung als ein Phänomen der Moderne, das jedoch Vorläufer in der Antike und im Mittelalter hat.
Die vielfältigen Ausdrucksformen des Rassismus werden unter verschiedenen Begrifflichkeiten diskutiert, namentlich Antisemitismus, Anti-Schwarzer und Anti-Muslimischer Rassismus (Islam) oder Orientalismus. Ob sich Rassismus gegenüber Roma, Sinti und Jenischen als Antiziganismus bezeichnen lässt, wird kontrovers diskutiert, da der Begriff den rassistischen Begriff «Zigeuner», den er überwinden will, fortschreibt.
Bildausschnitt aus dem Artikel «Sketch of the natural provinces of the animal world and their relation to the different types of man» von Louis Agassiz, erschienen in Types of Mankind [...] von Josiah Clark Nott und George Robins Gliddon, 1854, S. LXXVII und Tafel (Universitätsbibliothek Bern, BeM ZB Nat 17:1).
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Obwohl in der Vormoderne keine «wissenschaftlichen Rassentheorien» existierten, finden sich in antiken Quellen zahlreiche Herabsetzungen von «Barbaren». Im religiös geprägten Mittelalter erfolgten Abwertungen insbesondere von jüdischen (Judentum), muslimischen, nicht-sesshaften und afrikanischen Menschen nicht nur über religiöse Unterscheidungen, sondern auch anhand von körperlichen Merkmalen wie der Hautfarbe oder des zugeschriebenen Körpergeruchs. In der Forschung wird der Beginn des modernen Rassismus meist um 1500 situiert. In dieser Zeit taucht der Begriff «Rasse» vermehrt auf, um Gruppen anhand körperlicher Merkmale und anhand ihrer Abstammung zu hierarchisieren und Gewalt gegen sie zu legitimieren. Zum einen verschärfte sich die herkömmliche christliche Judenfeindschaft im Zuge der sogenannten Reconquista der muslimisch beherrschten spanischen Halbinsel mit Pogromen gegen die jüdische Minderheit. Zum anderen setzte die Verschleppung versklavter Menschen über den Atlantik in die europäischen Kolonien in Nord- und Südamerika ein (Sklaverei). Ferner führten europäische Gewalt und eingeschleppte Seuchen auf dem Doppelkontinent zu einem massenhaften Sterben indigener Menschen. Und schliesslich kam es zu Vertreibungen von aus Asien und dem Nahen Osten nach Europa eingewanderten Minderheiten, die als «Zigeuner» bezeichnet wurden (Fahrende). Die Gewalt setzte sich auch dann fort, wenn sich die unterdrückten Menschen zum Christentum bekehrten.
Typus cosmographicus universalis. Planisphäre des Sebastian Münster, illustriert von Hans Holbein dem Jüngeren und 1537 im Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum veröffentlicht von Johann Jakob Grynaeus, gedruckt in Basel von Johann Herwagen. Holzschnitt, 38,6 x 57,2 cm (Kunstmuseum Basel, Inv. 1933.278).
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Ausschnitte aus dem Typus cosmographicus universalis. Planisphäre des Sebastian Münster, illustriert von Hans Holbein dem Jüngeren und 1537 im Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum veröffentlicht von Johann Jakob Grynaeus, gedruckt in Basel von Johann Herwagen. Holzschnitt (Kunstmuseum Basel, Inv. 1933.278).
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In diesem Kontext verbreiteten sich Ideen, wonach sich Menschen nebst ihrer Religion noch durch tiefer sitzende Merkmale voneinander unterscheiden, namentlich durch die «Reinheit des Blutes». Nach dieser Doktrin wurden in spanischen Institutionen ab dem 15. Jahrhundert ausschliesslich Bewerber ohne jüdische oder muslimische Vorfahren zugelassen. Weitere Merkmale zur Diskriminierung von Minderheiten waren die Abstammung (Genealogie) oder eben ihre «Rasse». Damit transformierten sich ältere, primär religiös begründete Formen der Feindschaft zunehmend in moderne Gewaltpraktiken, die sich vermehrt mit Rekurs auf Körper, Blut und «Natur» legitimierten. Diese neuen Rechtfertigungsmuster lösten die Kultur und Religion allerdings nicht ab: Charakteristisch für moderne Formen des Rassismus ist die Kombination von vermeintlich natürlichen und kulturellen Abwertungskriterien.
Verwissenschaftlichung des Rassismus
Autorin/Autor:
Bernhard C. Schär
Mit der Säkularisierung im 18. und 19. Jahrhundert rückten die religiösen Komponenten des Rassismus zunehmend in den Hintergrund. Die Aufklärung betrachtete Mensch und Natur nicht mehr als Ergebnis göttlicher Schöpfung, sondern als Resultat von Gesetzmässigkeiten und Prozessen, die im Diesseits, in der Natur, wurzelten. Eng damit verbunden entwickelten europäische Aufklärer neue Formen des rationalen Regierens. Wissenschaftliche Kenntnisse vom Wesen des Menschen (Anthropologie) und der Natur (Biologie) versprachen Einsichten, wie diese effizient für ökonomische Zwecke zu nutzen seien. Auch setzte in Europa eine wissenschaftliche Suche nach den natürlichen Ursachen für die menschliche Vielfalt sowie nach den spezifischen Charakteristiken und ökonomischen Potenzialen menschlicher «Rassen» ein. Mit dem Aufschwung der Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert wurden die Beziehungen zwischen den «Rassen» auf einer Zeitachse geordnet, wobei die «weisse Rasse» an die Spitze des Fortschritts gestellt wurde. Zwar waren sich sogenannte Rassenforscher nie einig, wie viele «Rassen» es gebe, wie sie entstanden und in welchem Verhältnis sie zueinander stünden, doch galt der Umstand, dass «weisse Rassen» mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie (Technischer Fortschritt) über die Natur und «fremde Rassen» herrschten, als Bestätigung für ihre zivilisatorische und kulturelle Überlegenheit. Eng damit verbunden war die Vorstellung des «Rassenkampfes» und des Sozialdarwinismus: Die Vorherrschaft der «weissen Rassen» galt durch «Degeneration» im Inneren und «Vermischungen» mit «fremden Rassen» als bedroht, weshalb diese ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert etwa mit Hilfe der Eugenik geschützt werden sollte.
Werbeplakat für eine Grosse Völkerschau – Exhibition de peuplades im Zirkus Knie, 1931. Lithografie, 208 x 89 cm (Zürcher Hochschule der Künste, Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, GXX-0022).
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Die Beschleunigung der europäisch-imperialistischen Eroberungen in Asien und Afrika im 19. Jahrhundert machte den Rassismus zu einem globalen und alle gesellschaftlichen Sphären durchdringenden Phänomen. Er rechtfertigte die Ausbeutung kolonisierter «primitiver Rassen» in einem zunehmend von europäischen Kräften dominierten globalen Kapitalismus ebenso, wie die europäischen «Zivilisierungsmissionen», die kolonisierte Gesellschaften durch Christianisierung und «Erziehung zur Arbeit» an die europäische «Zivilisation» heranzuführen versuchten (Missionen). Er diente der Rechtfertigung exzessiver Gewalt gegen «primitive Rassen» in zahlreichen Kolonialkriegen und der Segregation von «Rassen» in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) sowie in Südafrika. Mit den Völkermorden im 20. Jahrhundert, insbesondere in der Folge eines globalen Aufschwungs des Faschismus, verabschiedete sich der Rassismus von aufklärerischen Rassentheorien, die zwar Hierarchien zwischen «Rassen» postulierten, ein Recht auf Vernichtung «primitiver Rassen» aber ablehnten. Insgesamt formte der Rassismus zahlreiche Strukturmerkmale der modernen Welt – wie die Wissenschaft, Weltwirtschaft, Kriege und Kultur – entscheidend mit.
Struktureller Rassismus und «Rassismus ohne Rasse» seit 1945
Autorin/Autor:
Bernhard C. Schär
Kritik am «wissenschaftlichen» Rassismus setzte bereits ab den 1880er Jahren ein. Zu einer Abwendung vom Rassismus führten jedoch vor allem die Verbrechen des Holocaust (Nationalsozialismus), die Dekolonisation in Afrika und Asien sowie die Erfolge der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er und 1970er Jahre. Damit verschwand der Rassismus als Doktrin imperialer Staaten. Erklärungen der Vereinten Nationen (UNO) deklarierten nach dem Zweiten Weltkrieg Rassismus als «pseudowissenschaftlich» und anti-demokratisch; die meisten Nationalstaaten mit Ausnahme Südafrikas (Apartheid) erhoben den Kampf gegen Rassismus zum Kennzeichen von Demokratie. Die über 400-jährige Geschichte des Rassismus wirkt allerdings in einer komplexen Weise fort, die in der Forschung mit zwei Konzepten gefasst wird: Der strukturelle Rassismus bezeichnet die ungleiche Verteilung von Chancen und Ressourcen (Gleichheit). Diese benachteiligt viele ehemals kolonisierte Regionen auf globaler Ebene und diskriminiert innerhalb der USA und den früheren europäischen imperialen Metropolen Minderheiten, die aus den einstigen Kolonien migriert sind. Eine Variante des strukturellen Rassismus ist der Umweltrassismus (Umwelt), der die ungleich stärkere Bedrohung von ehemals kolonisierten Regionen und rassistisch diskriminierten Minderheiten durch Umweltzerstörung und Klimawandel bezeichnet (Klima). Die fortwährenden Herabsetzungen von Gesellschaftsgruppen werden auch als «Rassismus ohne Rasse» beschrieben, da sie nicht mehr in der diskreditierten Sprache des modernen, biologisch geprägten Rassismus begründet werden, sondern mit Konzepten wie Ethnizität, religiösen oder kulturellen Unterschieden.
Rassismus in der Schweiz
Autorin/Autor:
Bernhard C. Schär
Als soziales, kulturelles, ökonomisches und politisches Gefüge waren die alte Eidgenossenschaft und der neue Bundesstaat stets in die globalen Dimensionen des Rassismus eingebunden. Pogrome gegen jüdische Gemeinden und Vertreibungen sind in der Eidgenossenschaft für das 14. und 15. Jahrhundert dokumentiert. Die ersten Wegweisungen von «Zigeunern» fallen ebenfalls ins 15. Jahrhundert. Mit der «Entdeckung» der Amerikas und des Seewegs nach Asien begannen frühneuzeitliche Zentren des Buchdrucks wie Basel, Genf oder Zürich im 16. Jahrhundert Kartenwerke und Bücher zu drucken, welche Charakteristika aussereuropäischer Völker in protorassistischer Weise systematisierten und popularisierten. Aufklärungsdenker wie der Zürcher Johann Kaspar Lavater trugen zur Entwicklung wissenschaftlicher Methoden der Systematisierung und Erforschung von «Rassenmerkmalen» menschlicher Körper und Empfindungen bei. Louis Agassiz und sein ehemaliger Assistent Carl Vogt gehörten beide – wiewohl sie evolutionstheoretisch konträre Positionen vertraten – zu den weltweit einflussreichsten Rassentheoretikern. Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelten sich die anthropologischen Institute der Universitäten Genf und Zürich (Julius Klaus-Stiftung) zu international führenden Zentren des «wissenschaftlichen» Rassismus. An beiden Standorten wurde in der DNA-und Blutgruppenforschung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an rassentheoretischen Prämissen festgehalten.
Über das Söldnerwesen, Reisen, den wissenschaftlichen Austausch,die Beteiligung am transatlantischen Sklaven- und Kolonialwarenhandel (Überseehandel), das Konsularwesen sowie durch die Missionsgesellschaften waren Schweizer Akteurinnen und Akteure sowie Institutionen in mannigfaltiger Weise in die ökonomischen, militärischen und kulturellen Dimensionen des Rassismus in den europäischen Kolonien eingebunden. «Völkerschauen» (Zoologische Gärten), Kinder- und Jugendliteratur, Werbung für Kolonialwaren und für Missionsspenden machten den kolonialen Rassismus, der die Überlegenheit einer «weissen Rasse» behauptet, im 19. und 20. Jahrhundert überdies zu einem konstitutiven Teil der schweizerischen Alltagskultur mit Kontinuitäten bis ins 21. Jahrhundert.
Un étranger dans le village. Dokumentarfilm mit James Baldwin nach dessen gleichnamigem Essay (Stranger in the village, 1953), von Pierre Koralnik 1962 in Leukerbad und Leuk gedreht (Radio Télévision Suisse, Genf, Play RTS).
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Rassismus in der Schweiz wurde erstmals 1953 vom afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin anlässlich seines Besuchs in Leukerbad analysiert: Er beschrieb ihn als «naiven» Glauben an die Überlegenheit weisser Kultur und «Rasse», der – anders als in Amerika – mangels direkter Kontakte mit versklavten oder kolonisierten Menschen seine gewaltsame Kehrseite verberge. Ab den 1960er Jahren beschäftigten sich auch Intellektuelle und Forschende verstärkt mit Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz. Eine systematische Reflexion der kolonialen Dimensionen des Rassismus in der Schweiz – wie sie Baldwin artikuliert hatte – erfolgte abgesehen von punktuellen Interventionen ab den 1970er Jahren erst in den 2010er Jahren, als «nicht weisse» Intellektuelle, Aktivistinnen und Aktivisten zunehmend die Verdrängung der schweizerischen Kolonialgeschichte kritisierten.
Rassistische Minderheiten- und Migrationspolitik
Autorin/Autor:
Bernhard C. Schär
Der kulturelle Kontext rund um den kolonialen Rassismus formte die Minderheiten- und Migrationspolitik der modernen Schweiz mit, auch wenn nicht europäische und «nicht weisse» Menschen in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert nur eine kleine Minderheit darstellten. Versklavte Menschen, die – wie Pauline Buisson – etwa als Eigentum von rückkehrenden Söldneroffizieren in kolonialen Diensten in die Schweiz kamen, oder Kinder, die Schweizer Männer mit versklavten oder kolonisierten Frauen gezeugt und in die Schweiz zurückgebracht hatten, warfen ab dem späten 18. Jahrhundert immer wieder die Frage auf, ob «nicht weisse» Menschen in der Schweiz Niederlassungs- oder Bürgerrechte erhalten dürften (Randgruppen).
In der Bundesverfassung von 1848 wurde das Niederlassungsrecht nur für christliche Schweizer gewährt (Artikel 41). Das verzögerte die rechtliche Gleichstellung von Jüdinnen und Juden, die auf internationalen Druck erst 1866 (Niederlassungsfreiheit) bzw. 1874 (Kultusfreiheit) erfolgte. Es prägte aber auch den Handel mit nicht europäischen Staaten: Wegen der fehlenden Niederlassungsfreiheit für muslimische Menschen konnte ein Handelsabkommen mit Persien (Iran) 1857 nicht ratifiziert werden. Ein Abkommen mit Japan 1864 sicherte zwar Schweizern Niederlassungs- und Religionsfreiheit in Japan zu, verweigerte jedoch japanischen Diplomaten diese Rechte in der Schweiz. Im selben Jahr verteidigten Bundesrat und Parlament das Recht von Schweizer Kaufleuten und Plantagenbesitzern in Brasilien, Menschen aus Afrika als Sklaven zu halten. Auf Druck der Kantone erliess der Bund 1906für «Zigeuner» ein Transportverbot im öffentlichen Verkehrund ein Einreiseverbot an der Grenze, das bis 1972 in Kraft blieb (Einwanderung). Auch bei der von der Pro Juventute in enger Kooperation mit den Behörden organisierten Verfolgung der Jenischen zwischen 1926 und 1972 (Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse) waren rassistische Argumente prägend (Heimatlose).
Ensemble contre le racisme! Zusammen gegen Rassismus! Plakat der Sozialdemokratischen Partei (SP) Genf und Thurgau, herausgegeben unter der Verantwortung von Micheline Calmy-Rey, im Siebdruckverfahren bei Christian Humbert-Droz in Genf hergestellt, 1994, 128 x 90,5 cm (Zürcher Hochschule der Künste, Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, 68-0250).
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Das moderne Migrationsregime der Schweiz, das mit der Einrichtung der Fremdenpolizei 1917 und dem 1931 eingeführten Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (Anag) institutionalisiert wurde, hatte zunächst vor allem binneneuropäische Migrierende sowie «Ostjuden» im Visier. Ziel war es, den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften sicherzustellen sowie gleichzeitig eine «Überfremdung» zu verhindern. Antisemitische Motive blieben im Zweiten Weltkrieg leitend für die Schweizerische Migrations- und Flüchtlingspolitik (Flüchtlinge). Mit der Gesetzgebung und deren Vollzug betraute Spitzenbeamte wie Ernst Delaquis, Heinrich Rothmund oder Max Ruth bedienten sich rassentheoretischer Argumentationen. Die Niederlassung von Ausländern sollte nach dem Kriterium der «Anpassungsfähigkeit» erteilt werden. Angehörige von «Rassen», die der schweizerischen nahe seien, sollten sich einfacher niederlassen dürfen als solche, «die uns in Rasse, Religion, Sitte ferner stehen» (Delaquis). Zu letzteren zählten insbesondere Menschen aus Asien und dem Nahen Osten («Orientalen») sowie Menschen afrikanischer Herkunft;in der mit einer erhöhten Arbeitsmigration konfrontierten Nachkriegszeit galten auch Migrantinnen und Migranten aus Italien und anderen südeuropäischen Staaten als wenig «anpassungsfähig», weshalb sie nur temporäre Aufenthaltsbewilligungen erhielten (Saisonniers).
Diese Praxis fand ihre Fortsetzung in der Einführung eines sogenannten Dreikreisemodells in den 1990er Jahren, das ausländische Arbeitssuchende je nach «kultureller Nähe» in drei Kategorien einteilte. Die 1995 eingesetzte Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) bezeichnete das Dreikreisemodell 1996 als rassistisch. Mit der Anpassung an das europäische Migrationsregime (Schengen und Dublin) blieb diese Struktur jedoch bestehen. Einer vergleichbaren Logik folgte die schweizerische Flüchtlingspolitik ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeigte sich tendenziell grosszügig gegenüber Geflüchteten aus europäischen, kommunistischen Regimen (Kalter Krieg), während auf Fluchtbewegungen aus dem Balkan (Jugoslawien), Asien, Afrika und dem Nahen Osten mit Verschärfungen der Asylgesetze reagiert wurde (Asyl).
Beitrag über Kundgebungen der Black-Lives-Matter-Bewegung in verschiedenen Schweizer Städten in der Tagesschau-Hauptausgabe des Fernsehens der deutschen Schweiz vom 13. Juni 2020 (Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich, Play SRF).
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1994 nahm die stimmberechtigte Bevölkerung der Schweiz an der Urne ein Gesetz an, das rassistische Handlungen und öffentliche Äusserungen sowie die Leugnung, grobe Verharmlosung oder Rechtfertigung eines Völkermords durch Einzelpersonen unter Strafe stellt. Gegen die strukturellen Dimensionen des «Rassismus ohne Rasse» bietet das Antirassismusgesetz jedoch keine Handhabe. Strukturen und Praktiken – wie etwa die Untervertretung von Minoritäten in Entscheidungspositionen und das Racial Profiling bei Polizeikontrollen – unterscheiden auch in der Schweiz des 21. Jahrhunderts nach wie vor zwischen einem als weiss oder christlich imaginierten Kern, der Individuen und Minderheiten entlang von Merkmalen wie Nationalität, Hautfarbe, Religion oder Herkunft als «einheimisch» oder «fremd» abgrenzt.
Baldwin, James: «Stranger in the Village», in: Harper's Magazine, 207/1241, 1953.
«Stellungnahme der Eidg. Kommission gegen Rassismus zum Drei-Kreise-Modell des Bundesrats über die schweizerische Ausländerpolitik», in: Tangram, 1, 1996, S. 53-59.
Burghartz, Susanna (Hg.): Inszenierte Welten. Die west- und ostindischen Reisen der Verleger de Bry, 1590-1630, 2004.
Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus, 2007 (20142).
Koller, Christian: Rassismus, 2009.
Painter, Nell Irvin: The History of White People, 2010.
Baldwin, James: Fremder im Dorf. Ein schwarzer New Yorker in Leukerbad, 2011 (englisch 1955).
Bogdal, Klaus-Michael: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, 2011 (20134).
Bancel, Nicolas; David, Thomas; Thomas, Dominic (Hg.): L’invention de la race. Des représentations scientifiques aux exhibitions populaires, 2014.
Schär, Bernhard C.; Ziegler, Béatrice (Hg.): Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen, 2014.
Zuber, Aline Mona: «Produire un savoir colonial dans un pays sans colonies». Les savants et les milieux scientifiques suisses romands dans l’écueil de la pensée coloniale. Histoire et enjeux contemporains, Masterarbeit, Geneva Graduate Institute, Genf, 2020.
Bernhard C. Schär: "Rassismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.04.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/060537/2024-04-08/, konsultiert am 03.12.2024.