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RichterswilAnstalt

Das 1881-1987 betriebene Erziehungsheim in Richterswil war eine auf private Initiative gegründete, katholische Einrichtung im reformierten Kanton Zürich, die Mädchen und junge Frauen (Jugend) aufnahm. Bis Mitte der 1920er Jahre funktionierte es nach dem Prinzip eines sogenannten Industrieheims als Arbeitsanstalt unter weltlicher Leitung.

Richterswil (Anstalt): Situationskarte 2023 (Geodaten: Bundesamt für Statistik, Swisstopo, OpenStreetMap) © 2023 HLS.
Richterswil (Anstalt): Situationskarte 2023 (Geodaten: Bundesamt für Statistik, Swisstopo, OpenStreetMap) © 2023 HLS.

In der Tradition der Armenerziehungs- und Rettungsanstalten des 19. Jahrhunderts (Anstaltswesen) öffnete die von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) getragene Industrielle Anstalt für katholische Mädchen in Richterswil 1881 ihre Tore. Sie stand unter der Ägide des Industriellen und Philanthropen Caspar Appenzeller, der zu diesem Zeitpunkt bereits drei Kinder- und Jugendheime betrieb, deren Hauptmerkmal die integrierte Industriearbeit als «Erziehungsmittel» war (Arbeit). Wegen Platzmangels wurde die neue Anstalt, die in einem Fabrikgebäude aus dem frühen 19. Jahrhundert an der Seestrasse am Ortsrand von Richterswil eingerichtet worden war, bereits 1889 um einen Fabrikneubau mit Arbeitssälen auf zwei Etagen erweitert. Ein angegliederter Landwirtschaftsbetrieb diente mit Milchproduktion, Schweinemast und Gemüseanbau vornehmlich der Selbstversorgung. Bis 1930 bewirtschafteten ihn die Eingewiesenen grösstenteils selbst, anschliessend wurde er verpachtet. 1960 erfolgte rund hundert Meter südlich der älteren Räumlichkeiten die Eröffnung eines zusätzlichen Wohn- und Haushaltungsschulgebäudes. Über gefängnisartige Sicherungsmassnahmen in den Anlagen und deren Umgebung ist nichts bekannt.

Die Einrichtung nahm weibliche Jugendliche und junge Frauen im Alter von etwa 15 bis 25 Jahren auf, die als «schwererziehbar» galten. Anfänglich lag die untere Altersgrenze bei 13 Jahren, also beim Ende der obligatorischen Schulzeit. Bis zum Ersten Weltkrieg lebten im Heim jeweils zwischen 70 und 90 Insassinnen; ihre Zahl sank während der Krisenzeit bis Anfang der 1920er Jahre auf etwa 30 und stieg danach wieder auf 70 bis 80. Ab Ende der 1930er Jahre sank die Belegung kontinuierlich auf 40 bis 50 Personen und pendelte sich im Zuge der Neukonzeption der Anstalt in den späten 1960er Jahren bis zur Schliessung des Heims bei etwa 20 ein.

Die Heimbewohnerinnen stammten aus der ganzen Schweiz, mehrheitlich aus deutschsprachigen, katholisch geprägten Kantonen, zum Teil auch aus der französischen Schweiz, dem Tessin oder dem benachbarten Ausland. Einweisungen erfolgten über Jugendgerichte (Strafrecht), auf private Initiative der Erziehungsberechtigten und auf administrativ-behördlichem Weg (Administrative Versorgung). Administrative Einweisungen waren – soweit zu ermitteln – am häufigsten und machten in den 1960er Jahren bis zu drei Viertel aller Internierungen aus. Belegt ist ausserdem, dass das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse der Pro Juventute ab ca. 1930 bis in die 1960er Jahre Jugendliche aus jenischen Familien (Jenische) nach Richterswil sandte.

Gemüsegarten der Erziehungsanstalt für katholische Mädchen in Richterswil. Fotografie, um 1914 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Fe-0002-23).
Gemüsegarten der Erziehungsanstalt für katholische Mädchen in Richterswil. Fotografie, um 1914 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Fe-0002-23). […]

In Kooperation mit dem ortsansässigen Fabrikanten Rudolf Zinggeler und dessen Sohn Rudolf mussten die Jugendlichen bis 1926 in der industriellen Seidenzwirnerei (Textilindustrie) arbeiten und trugen mit ihrem Ertrag zur Finanzierung des Heims bei. Die durch den Wegfall dieser Einnahmequelle verursachten wirtschaftlichen Probleme sowie Misshandlungsvorwürfe ehemaliger Heiminsassinnen führten in der Folge zu einem Leitungswechsel und zur Neukonzeption der Anstalt durch die Schwestern des Basler Katharina-Werks. Hauswirtschaftliche Arbeiten wie das Waschen, Glätten, Nähen, Schürzenmachen und die Gartenarbeit lösten die Industriearbeit ab; neu konnten die Eingewiesenen zudem interne Berufsausbildungen als Damenschneiderin, Weissnäherin, Glätterin oder in der Hauswirtschaft (ab 1954) absolvieren. In den späten 1960er Jahren ersetzte die Anstaltsleitung dieses beschränkte Angebot durch ein «Werkjahr», das der Abklärung der beruflichen Eignung diente. Anstelle der Arbeitsleistung der Internierten finanzierte sich die Anstalt nun vermehrt über öffentliche Gelder. Als äusseres Merkmal dieser Veränderungen erfolgte 1967 die Umbenennung in Stiftung Grünau. 1977 wurden die Katharina-Schwestern wegen Nachwuchsmangels in der Kongregation von einer weltlichen Leitung abgelöst. Diese führte ein «Berufswahljahr» ein, das den Jugendlichen den Zugang zu einem breiteren Spektrum an Berufen eröffnen sollte.

Dem Trend der 1970er Jahre zu neuen Betreuungsformen folgend, wurde 1979 eine betreute Aussenwohngruppe eröffnet, zunächst bei Wollerau, ab 1982 in Richterswil. Mit dem Inkrafttreten des neuen kantonal-zürcherischen Heimkonzepts 1986 fielen die Subventionen für private Einrichtungen weg, was 1987 zur Schliessung des Jugendheims führte. Nach einer Phase der Neukonzeption widmete sich die Stiftung Grünau ab den 1990er Jahren der Berufsintegration junger Menschen.

Die Gebäude der ehemaligen Mädchenanstalt im Ortsteil Mülenen der Gemeinde Richterswil: 1986 in einer Luftaufnahme aus Nordosten und 1989 in einer Nahaufnahme aus Südwesten. Bild links von der Swissair Photo AG, Bild rechts von Hans-Peter Bärtschi (ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv, LBS_L1-868270 und SIK_03-082021).
Die Gebäude der ehemaligen Mädchenanstalt im Ortsteil Mülenen der Gemeinde Richterswil: 1986 in einer Luftaufnahme aus Nordosten und 1989 in einer Nahaufnahme aus Südwesten. Bild links von der Swissair Photo AG, Bild rechts von Hans-Peter Bärtschi (ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv, LBS_L1-868270 und SIK_03-082021). […]

Quellen und Literatur

  • Keller, Regula: Von der industriellen Anstalt für katholische Mädchen zur Stiftung «Grünau» in Richterswil 1881-1977. Historische Monographie einer sozialpädagogischen Institution, 1988.
  • Alltag unter Zwang. Zwischen Anstaltsinternierung und Entlassung, 2019 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 8).
Weblinks
Normdateien
GND
VIAF
Kurzinformationen
Variante(n)
Industrielle Anstalt für katholische Mädchen in Richterswil
Erziehungsanstalt für katholische Mädchen in Richterswil
Schweizerische industrielle Erziehungsanstalt für katholische Mädchen
Schweizerisches Erziehungsheim für katholische Mädchen in Richterswil
Stiftung Grünau

Zitiervorschlag

Kevin Heiniger: "Richterswil (Anstalt)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.02.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/061594/2024-02-05/, konsultiert am 09.11.2024.