Dekolonisation

Dekolonisation meint den Übergang bestimmter Territorien und Bevölkerungsgruppen von einer Lage der Fremdherrschaft durch zumeist europäische Mächte (Kolonialismus) hin zur völkerrechtlichen Selbstbestimmung. Dabei ist entscheidend, dass die abzuwehrende Kolonialmacht eine tiefgreifende Transformation der sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse im fremdbestimmten Gebiet anstrebte. Die langfristige Wirkung dieser als «Zivilisierungsmission» konzipierten Eingriffe ist Gegenstand der postkolonialen Theorie.

Der Begriff Dekolonisation ist weitgehend gleichbedeutend mit dem Erlangen nationaler Unabhängigkeit aus imperialen Verhältnissen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem konkreten Ereignis, mit dem Souveränität durch einen Staatsakt erklärt worden ist, was sich auf der Zeitachse als Punkt abbilden lässt, und dem langwierigen kulturgeschichtlichen Prozess des Rückbaus kolonialer Strukturen in sozioökonomischer und mentaler Hinsicht. Letzteres wird auch Dekolonisierung genannt.

1.-Mai-Umzug in Zürich mit einem antikolonialen Spruchband. Fotografie von B. Berndt, 1960 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F 5047-Fb-068).
1.-Mai-Umzug in Zürich mit einem antikolonialen Spruchband. Fotografie von B. Berndt, 1960 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F 5047-Fb-068). […]

Dekolonisationsereignisse lassen sich historisch zu Wellen gruppieren. Eine erste Welle begann 1776 mit der Erklärung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) vom britischen Einfluss bzw. 1804 mit der revolutionären Emanzipation Haitis von Frankreich. Im Verlauf des Jahrhunderts verloren auch Spanien ab 1810 und Portugal ab 1822 den Zugriff auf den amerikanischen Doppelkontinent. Zeitgleich verstärkten die europäischen Mächte Grossbritannien, Frankreich, die Niederlande und später auch Deutschland, Italien, Belgien, Japan, Russland und die USA ihren imperialen Machtanspruch in Asien und Afrika, was zu einer nächsten Welle der Dekolonisation führte. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es aus dem zerfallenden Verbund der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs in Südosteuropa zur Gründung einer Reihe neuer Nationalstaaten, während die europäischen Metropolen und Japan ihre koloniale Präsenz in entfernten Gebieten intensivierten. Im Apartheidstaat Südafrika und in den USA bildeten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechtlich differenzierte Systeme einer kolonialen inneren Regierung aus, die ebenfalls Dekolonisationswünsche hervorriefen.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs führte dann zum Zusammenbruch des britischen Kolonialreichs auf dem indischen Subkontinent, zum Rückzug der Niederlande aus Indonesien und zum Kollaps des französischen Herrschaftsanspruchs über Indochina (Vietnam). Der Koreakrieg ab 1950 und der Vietnamkrieg ab 1955 waren gewaltsame Dekolonisationsprozesse. Als weitere Welle folgte die Dekolonisation Afrikas mit dem Algerienkrieg 1954-1962 (Abkommen von Evian), dem friedlichen Übergang Ghanas in die Unabhängigkeit 1957 und dem Jahr der afrikanischen Unabhängigkeit 1960, als zahlreiche neue Nationalstaaten entstanden. Im gleichen Jahr erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) jegliche Form von Fremdherrschaft zu einem Verbrechen und postulierte das Recht aller Völker auf unabhängige staatliche Selbstbestimmung. Ab 1974 endete der portugiesische Zugriff auf Angola und Mosambik, 1980 das koloniale Gewaltsystem in Simbabwe. 1994 wurde Nelson Mandela zum Präsidenten von Südafrika gewählt und das Apartheid-Regime beendet. 2008 wählte die US-amerikanische Bevölkerung Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten und stellte so die kolonialen Binnenverhältnisse in Frage.

Schweizer Diplomatie und die Dekolonisation Afrikas. Links: Brief von Max Petitpierre an Hans Schaffner vom 31. Oktober 1959 (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, E2800#1990/106#78*); rechts: «Erneute Ankunft von Schweizer Flüchtlingen aus Algerien», Artikel in der neuenburgischen Zeitung L’Impartial vom 26. Juni 1962 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Schweizer Diplomatie und die Dekolonisation Afrikas. Links: Brief von Max Petitpierre an Hans Schaffner vom 31. Oktober 1959 (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, E2800#1990/106#78*); rechts: «Erneute Ankunft von Schweizer Flüchtlingen aus Algerien», Artikel in der neuenburgischen Zeitung L’Impartial vom 26. Juni 1962 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Dekolonisationsereignisse haben in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen. So war die Gründung der USA im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Akt der Dekolonisation gegenüber Grossbritannien, während der neue Staat intern gegen die indigene Bevölkerung einen gewaltsamen Kolonialismus entfaltete und weltpolitisch ab dem späten 19. Jahrhundert etwa gegenüber den Philippinen, Lateinamerika oder Hawaii koloniale Ambitionen behauptete. Im 20. Jahrhundert machten sich die USA zum Anwalt von Dekolonisationsbestrebungen in Asien und Afrika, wobei die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die ehemalige US-amerikanische First Lady Eleanor Roosevelt in Paris 1948 bedeutsam war.

Die lange Geschichte kolonialer Fremdherrschaft hat dauerhafte Spuren im Gedächtnis der Weltgesellschaft hinterlassen. Sie wirken in dem bislang unabgeschlossenen Projekt der Dekolonisierung weltwirtschaftlicher Strukturen und mentaler Konzeptionen weiter. Das Thema schwingt mit in der vermutlich nicht auflösbaren Widersprüchlichkeit der europäischen Expansion seit dem frühen 16. Jahrhundert, die individuelle naturrechtliche Freiheit postulierte und zugleich fast überall auf der Welt staatliche Unterdrückungssysteme einsetzte. Dekolonisation meint das Erlangen nationaler Souveränität, die sich in dezidierter Absetzung gegen europäische Machtansprüche just auf europäische Staatsrechtstraditionen beruft.

Für die Schweiz, die nie Kolonien hatte, war die Dekolonisation bzw. das Ende der Imperien mehrdeutig. Während der ersten Welle der Dekolonisationsbestrebungen bestand die Eidgenossenschaft noch nicht als Nationalstaat, sondern hatte sich in der Abgrenzung zu den grossen europäischen Mächten erst zu finden. Unter der französischen Herrschaft zwischen 1798 und 1815 (Helvetische Republik, Mediation) fand eine tiefgreifende Transformation der sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse statt, die kolonialistische Aspekte hatte.

Nach der Bundesstaatsgründung von 1848 ging es um die Sicherung von Absatzmärkten für die aufstrebende Exportindustrie (Exportwirtschaft). Erste wirtschaftsdiplomatische Vertretungen in den Überseemärkten wurden aufgebaut und die eidgenössischen Räte diskutierten in den 1880er Jahren die Frage, ob auch die Schweiz weltpolitisch kolonialistische Ansprüche anmelden sollte. Die grossen Verwerfungen durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts machten solche Visionen obsolet. Stattdessen fand der Kleinstaat eine fruchtbare Nische, zum Beispiel indem er es zuliess, dass Schweizer Unternehmen die von den Vereinten Nationen seit den 1960er Jahren formulierte Boykott-Politik gegen den südafrikanischen Apartheid-Staat umgingen.

Bronzeskulptur von David de Pury in Neuenburg, am Morgen des 13. Juli 2020, mit roter Farbe verschmiert und während der Reingungsarbeiten (Fotografien Lucas Vuitel).
Bronzeskulptur von David de Pury in Neuenburg, am Morgen des 13. Juli 2020, mit roter Farbe verschmiert und während der Reingungsarbeiten (Fotografien Lucas Vuitel). […]

Während die Dekolonisation staatsrechtlich abgeschlossen scheint, bleibt die Dekolonisierung für die Schweiz eine Thematik, deren Geschichte wie in allen europäischen Metropolen in die Gegenwart reicht und teilweise noch ungeklärt ist. Die kleine, offene Volkswirtschaft hat spätestens seit dem 18. Jahrhundert von der kolonialen Expansion Europas wirtschaftlich in vielerlei Hinsicht profitiert (Überseehandel, Transithandel). Im 19. Jahrhundert entfalteten in der Schweiz domizilierte christliche Missionen vor allem in Afrika und Asien eine gewisse Bedeutung. Seit den ausgehenden 1960er Jahren besteht eine innenpolitisch bedeutsame Kraft von Nichtregierungsorganisationen, die eine Auseinandersetzung mit den ehemals kolonialen Beziehungen des Landes zur sogenannten Dritten Welt sowie wirtschafts- und sozialpolitische Korrekturen anmahnen. Debatten über Spuren der kolonialen Vergangenheit finden zum Beispiel im Zuge von Gesetzgebungsprozessen der Schweizer Migrationspolitik (Einwanderung) oder im Rahmen der Gestaltung des öffentlichen Raums statt, wo die Benennung von Lokalitäten bisweilen umstritten ist (David de Pury, Louis Agassiz). Stimmen aus der Schweiz haben schon früh auf die Widersprüche hingewiesen, die sich aus der Dekolonisation ergeben. Zu denken ist an die Analyse der wirtschaftlichen Expansion der Schweiz von Richard Fritz Behrendt 1932, an die fulminante Gesamtschau der Dekolonisation von Rudolf von Albertini 1966 oder an die kulturwissenschaftlichen Schriften von Roy Preiswerk aus den 1970er Jahren.

Quellen und Literatur

  • Behrendt, Richard Fritz: Die Schweiz und der Imperialismus. Die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalismus, 1932.
  • Albertini, Rudolf von: Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919-1960, 1966.
  • Preiswerk, Roy: Entwicklungshilfe als Kulturbegegnung, [1972].
  • Graf, Christoph: «Die Schweiz und die Dritte Welt», in: Studien und Quellen, 12, 1986, S. 37-112.
  • Rothermund, Dietmar: The Routledge Companion to Decolonization, 2006.
  • Fisch, Jörg: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, 2010.
  • Perrenoud, Marc: «Les relations de la Suisse avec l’Afrique lors de la décolonisation et des débuts de la coopération au développement», in: Revue internationale de politique de développement, 1, 2010, S. 81-98.
  • Purtschert, Patricia; Lüthi, Barbara; Falk, Francesca (Hg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, 2012.
  • Bott, Sandra: La Suisse et l’Afrique du Sud, 1945-1990. Marché de l'or, finance et commerce durant l'apartheid, 2013.
  • Ngũgĩ wa Thiong'o: Dekolonisierung des Denkens – Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur, 2017 (englisch 1986).
Weblinks

Zitiervorschlag

Daniel Speich Chassé: "Dekolonisation", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.03.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/061756/2024-03-26/, konsultiert am 10.12.2024.