MariellaMehr

27.12.1947 Zürich, 5.9.2022 Zürich, von Almens, katholisch, später konfessionslos. Journalistin, Schriftstellerin, Betroffene der Aktion «Kinder der Landstrasse» sowie Kämpferin für die Rechte der Jenischen in der Schweiz.

Porträt von Mariella Mehr. Fotografie von Gertrud Vogler, 1991 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F_5107-Na-24-054-003).
Porträt von Mariella Mehr. Fotografie von Gertrud Vogler, 1991 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F_5107-Na-24-054-003).

Mariella Mehr wurde als Angehörige der jenischen Minderheit in der Schweiz ihrer Mutter Maria Emma Mehr vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute weggenommen. Ihre Mutter war ihrerseits bereits fremdplatziert und in Anstalten interniert worden. Der Name des Vaters ist nicht bekannt. Mehr verbrachte ihre Kindheit in verschiedenen Erziehungsheimen und psychiatrischen Kliniken (Psychiatrie). Als sie mit knapp 18 Jahren schwanger wurde, verhinderte ihre Vormundin Clara Reust, die Nachfolgerin des «Hilfswerks»-Gründers Alfred Siegfried, eine Eheschliessung mit Mehrs Partner Siro Moja, einem Sinto aus Italien, indem sie ihr Mündel in die Frauenstrafanstalt Hindelbank einweisen liess (Administrative Versorgung). Der während ihrer Internierung 1966 geborene Sohn Christian Mehr wurde auf Betreiben der Pro Juventute ebenfalls fremdplatziert (Kindswegnahme). Mariella Mehr war in erster Ehe kurz mit Bernhard Wüthrich und von 1992 bis zu dessen Tod mit dem Chemieingenieur Hans Ueli Ellenberger verheiratet. Mit Letzterem lebte sie 1997-2014 in Italien.

Nach Anstellungen in der Gastronomie und als Arbeiterin in der Nahrungsmittelfabrik Wander wirkte Mehr ab 1973 als Journalistin. Sie schrieb für linksalternative Blätter wie Focus oder Die Wochenzeitung (WoZ), aber auch für das Tages-Anzeiger Magazin (Tages-Anzeiger). Ab der Veröffentlichung ihres Romans Steinzeit von 1981, in dem Mehr das Schicksal ihrer Mutter sowie ihr eigenes literarisch verarbeitete, war sie freie Schriftstellerin. Es folgten 1983 ein Gedichtband, 1984 der Bericht Das Licht der Frau über einen Aufenthalt in Spanien, drei Theaterstücke, 1994 der Psychiatrieroman Zeus oder der Zwillingston sowie ihr Hauptwerk, die sogenannte Trilogie der Gewalt mit den Bänden Daskind (1995), Brandzauber (1998) und Angeklagt (2002). Daneben publizierte Mehr weiterhin Presseartikel, Essays und Gedichte.

Mariella Mehrs Auftritt an der Pressekonferenz vom 5. Mai 1986 am Hauptsitz der Pro Juventute in Zürich. Beitrag Kinder der Landstrasse in der Sendung DRS Aktuell des Fernsehens der deutschen Schweiz (Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich, Play SRF).
Mariella Mehrs Auftritt an der Pressekonferenz vom 5. Mai 1986 am Hauptsitz der Pro Juventute in Zürich. Beitrag Kinder der Landstrasse in der Sendung DRS Aktuell des Fernsehens der deutschen Schweiz (Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich, Play SRF). […]

Als Mitgründerin der Radgenossenschaft der Landstrasse 1975 und der Stiftung Naschet Jenische 1986 setzte sich Mehr für die Rechte der jenischen Minderheit ein (Jenische). Ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat sich ihr Auftritt mit dem Vorstand der Radgenossenschaft an der Pressekonferenz der Pro Juventute vom 5. Mai 1986 in Zürich: Der damalige Stiftungsratspräsident und alt Bundesrat Rudolf Friedrich verweigerte die von ihr geforderte Entschuldigung für die systematische Zerstörung jenischer Familien durch das «Hilfswerk». Mehr bezeichnete die Verfolgung der jenischen Volksgruppe in der Schweiz als versuchten Genozid, so auch 1988 in ihrem (abgelehnten) Gesuch an die Universität Bern, dem Bündner Psychiater Benedikt Fontana dessen dort 1967 angenommene Dissertation wegen rassistischer Aussagen (Rassismus), nachweisbarer Fehler und zahlreicher Plagiate abzuerkennen. Ihre Versuche, die Verschleppung von Kindern sowie die Einsperrungen und Eheverhinderungen, welche die Jenischen erlebten, juristisch als unverjährbare Tatbestände von Völkermord zu ahnden, blieben zu ihrer Lebzeit erfolglos. Wie der Gründungspräsident der International Romani Union, Jan Cibula, betrachtete Mehr die Jenischen als eine zur Roma-Nation gehörende Gruppe; seit den 1990er Jahren bezeichnete sie sich selbst wiederholt als Roma-Schriftstellerin.

Mariella Mehr verwendete eine aussergewöhnlich präzise und kompromisslose Sprache, um die Erfahrung von Gewalt, Ausgrenzung, Sprachlosigkeit und Leid auszudrücken. Ihr literarisches Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen (u.a. ProLitteris-Preis 2012, Bündner Literaturpreis 2016) ausgezeichnet. Für ihr politisches Engagement erhielt sie 1988 den Ida-Somazzi-Preis und 2018 den Anna-Göldi-Menschenrechtspreis (Anna Göldi). 1998 verlieh ihr die Universität Basel das Ehrendoktorat.

Quellen und Literatur

  • Mehr, Mariella: Steinzeit, 1981.
  • Mehr, Mariella: Das Licht der Frau, 1984.
  • Mehr, Mariella: Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen, 1987.
  • Mehr, Mariella: Zeus oder der Zwillingston, 1994.
  • Mehr, Mariella: Daskind, 1995.
  • Mehr, Mariella: Brandzauber, 1998.
  • Mehr, Mariella: Angeklagt, 2002.
  • Mehr, Mariella: Ognuno incatenato alla sua ora, hg. von Anna Ruchat, 2014 (Gedichte, Paralleltext deutsch-italienisch).
  • Mehr, Mariella: Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen, hg. von Christa Baumberger, Nina Debrunner, 2017 (mit Werkverzeichnis).
  • Mehr, Mariella: Von Mäusen und Menschen. Über Wissenschaft, Gutachter und ihre Akten, 2022.
  • Cantieni, Benita: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews, 1983, S. 222-237, 260.
  • Caduff, Corina: «Die verlorene Herkunft in den Texten von Jenischen», in: Caduff, Corina (Hg.): Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur, 1997, S. 175-191.
  • Iacovino, Filomena: Mariella Mehr. Wie das Opfer zum Täter wird, Lizenziatsarbeit, Università degli Studi di Perugia, 2003.
  • Schär, Bernhard C.: «Nackte Ohnmacht, verletzte Körper und unverhüllte Kritik: Mariella Mehr», in: Schär, Bernhard C.; Ammann, Ruth et al. (Hg.): Bern 68. Lokalgeschichte eines globalen Aufbruchs – Ereignisse und Erinnerungen, 2008, S. 192-196.
  • Starck-Adler, Astrid: «Qui a peur de Mariella Mehr?», in: Etudes tsiganes, 37, 2009, S. 74-87.
  • Sälzer, Anna-Lena: Sich selbst zum Spieleinsatz machen. Prosatexte Mariella Mehrs zwischen Wahrheits- und Erfahrungsbuch, Dissertation, Universität Trier, 2010.
  • Baer, Ursula: «Daskind» by Mariella Mehr. Unveiling a Subjugated History: A First Draft of an Archae-genealogical History of WVHPKL/OHGFRI People, Dissertation, University of British Columbia, 2015.
  • Herzig, Michael: Landstrassenkind. Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr, 2023.
Weblinks
Normdateien
GND
VIAF
Kurzinformationen
Variante(n)
Mariella Prisca Mehr (Taufname)
Mariella Wüthrich (Ehename; Pseudonym)
Lebensdaten ∗︎ 27.12.1947 ✝︎ 5.9.2022

Zitiervorschlag

Thomas Huonker: "Mehr, Mariella", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.12.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/062248/2024-12-19/, konsultiert am 16.01.2025.