Die Zahlen sprechen für sich: Nach wie vor liegt der Frauenanteil im Nationalrat unter einem Drittel, auch wenn er seit 1974 langsam, aber stetig angewachsen ist. Im Ständerat sinkt die weibliche Vertretung seit 2003 (aktuell bei 15,2%) und es zeichnet sich ab, dass sich diese Entwicklung 2019 fortsetzt. Wir haben mit zwei Exponentinnen der italienischsprachigen Schweiz, aus unterschiedlichen Generationen und mit unterschiedlichen Laufbahnen, ein Gespräch geführt, über Erfolge und Misserfolge, über Fortschritt und Stillstand bei der Gleichstellung der Geschlechter, innerhalb und ausserhalb der Welt der Politik.
HLS: Mit welchen drei Adjektiven würden Sie die Frauenemanzipation in der Schweiz charakterisieren und warum?
Chiara Simoneschi-Cortesi (CSC): Verspätet, langsam und in der Wirtschaftswelt absolut ungenügend. Dabei denke ich in erster Linie an die Lohngleichheit und an die verschwindend kleine Zahl von Frauen in Entscheidungsgremien. Diese Tatsache ist einer Form von Konservativismus geschuldet, der vor allem bezüglich der Rolle der Frau in der Arbeitswelt, aber auch bezüglich der Aufgabenverteilung innerhalb von Familie, Arbeit und Politik in Erscheinung tritt. Zudem mangelt es nach wie vor an der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für beide Elternteile, an Unterstützungsleistungen für Familien und ganz allgemein an Massnahmen zur Behebung von Hindernissen, mit denen sich ausschliesslich Frauen konfrontiert sehen.
Marina Carobbio Guscetti (MCG): Nötig, leidenschaftlich, solidarisch. Nötig, weil sich Frauenrechte und die Gleichstellung von Mann und Frau ohne eine gerechtere und verantwortungsvollere Gesellschaft, die sich Diversität gegenüber aufgeschlossener zeigt, nicht einlösen lassen. Leidenschaftlich und solidarisch, weil es die Frauen mit ihrer Kraft waren und sind, die sich für ihre Rechte einsetzen und gegen Diskriminierungen ankämpfen.
Können Sie uns ein öffentliches oder privates Ereignis nennen, das ihre Hoffnung auf Gleichberechtigung stärkte bzw. enttäuschte?
CSC: 1981, als Volk und Stände Ja sagten zum neuen Verfassungsartikel über die Gleichstellung von Mann und Frau und damit wichtigen Reformen, wie den Verbesserungen im Familienrecht, dem Gleichstellungsgesetz und der Mutterschaftsversicherung, den Weg bahnten.
2018, als sich die beiden Kammern aus nicht nachvollziehbaren Gründen derart schwertaten, eine Gesetzesrevision zu verabschieden, die die Lohndiskriminierung aufgrund des Geschlechts abschafft, systematische Kontrollen durch den Staat einführt und bei Verstössen Bussen androht.
Und was mich auch heute noch beschäftigt, ist die Gewalt an Frauen, sei es in der Familie oder in der Öffentlichkeit. Nichts deutet darauf hin, dass diese abnimmt. Es gibt also noch vieles zu tun.
MCG: Ermutigend für die Gleichstellung war ohne Frage der Frauenstreik vom 14. Juni 1991. Ich studierte damals in Basel und nahm mit grosser Begeisterung an der eindrücklichen Mobilisierung teil. Diese Erfahrung prägte meinen politischen Werdegang.
Mit einer tiefen Enttäuschung verbinde ich hingegen die parlamentarische Debatte vom letzten Jahr über die Lohngleichheit. Chiara hat es gut erklärt. Seit Jahrzehnten hören wir Frauen sagen, dass die Unternehmen das Anliegen auf freiwilliger Basis umsetzen werden. Doch leider trifft dies nicht zu. Das verabschiedete Gesetz von 2018 ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber vollkommen ungenügend. Ich hoffe, der kommende Frauenstreik treibe auch diese Angelegenheit weiter voran.
Frau Simoneschi-Cortesi, Sie waren die erste italienischsprachige Frau, die den Nationalrat präsidierte? Welche Hürden mussten Sie überwinden, bis Sie ins Amt gewählt wurden?
CSC: Am schwierigsten war für mich, und dies gilt ganz allgemein für die Frauen, überhaupt auf die Nationalratsliste zu kommen. In der Politik gibt es mehr oder weniger attraktive Funktionen. Für die Frauen wird es sehr schwierig, wenn sie Ambitionen auf Ämter hegen, die Männer besonders begehren. Einmal auf der Liste, folgt ein harter und teurer Wahlkampf – was dessen Finanzierung betrifft, sollte eine Pflicht zur Offenlegung der Mittel eingeführt werden. Nach der Wahl heisst es, in den Kommissionen viel und gute Arbeit zu leisten, um auf sich aufmerksam zu machen. So erwirbt man sich Einfluss und Autorität. In einer Versammlung von 200 Personen ist dieses Ziel allerdings nicht so einfach zu erreichen. Schliesslich benötigt man auch die Unterstützung in der eigenen Fraktion, die in geheimer Abstimmung die Präsidentschaftskandidatin oder -kandidaten intern auswählt. Ich habe mich gegen einen von mir sehr geschätzten Kollegen aus Luzern durchgesetzt. Nachdem ich diese Etappe gemeistert hatte, stellte die Wahl durch den Nationalrat kein Problem mehr dar.
Genau zehn Jahre später haben Sie, Frau Carobbio Guscetti, das "Tessiner" Erbe von Frau Simoneschi-Cortesi angetreten. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
MCG: Chiara übernahm eine wichtige Rolle als Wegbereiterin in Bern, indem sie Voraussetzungen schuf, um die italienische Sprache in stärkerem Mass zu fördern. Ohne ihren Einsatz und die Unterstützung durch die Parlamentsdienste wäre mein Entscheid, die Sitzungen des Nationalrats auf Italienisch abzuhalten, nicht möglich gewesen. Auch auf persönlicher Ebene hat mir Chiara viel geholfen. Der Zufall wollte es, dass wir in den ersten Monaten in Bern im Nationalrat nebeneinandersassen. Dank dieser Nachbarschaft wurde Chiara zu meiner Mentorin und unterstützte mich bei meinen ersten Schritten im Bundesparlament. Ganz grundsätzlich halte ich es für wichtig, dass junge Frauen sich auf Vorbilder stützen können. Ich hoffe, mein Präsidium ermutige eine immer grösser werdende Zahl von ihnen, sich auf die Politik einzulassen und die eigenen Träume zu verwirklichen.
Frau Carobbio Guscetti, als Ehrerweisung gegenüber den ersten zwölf Frauen im Bundeshaus haben Sie an den Ratspulten, an denen sie sassen, Gedenkschilder anbringen lassen. Die Plaketten können auch als Mahnung verstanden werden. Was wollen sie den Frauen und Männern sagen, die sich auf diese Stühle setzen?
MCG: Mit den Plaketten wird zu Recht die grosse Arbeit dieser Pionierinnen und deren Hartnäckigkeit anerkannt. Es war alles andere als selbstverständlich, 1971 als Frau – einige waren auch jung und Mütter – ins Parlament gewählt zu werden. Deshalb sind die Schilder für mich ein schönes Zeichen und dienen hoffentlich als Ansporn, sich zukünftig weiterhin für die Gleichberechtigung und gegen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu engagieren. Dort, wo Entscheidungen getroffen werden, benötigen wir mehr Frauen!
Kann das Historische Lexikon der Schweiz aus Ihrer Sicht einen Beitrag zum Wandel der Geschlechterbeziehungen leisten?
CSC: Die Geschichte ist auch und vor allem wichtig, um nicht zu vergessen, dass vor uns Einsatz und Leidenschaft von Tausenden Frauen nötig gewesen waren, bis rechtliche Gleichstellung und deren Realisierung in allen Gesellschaftsbereichen vollzogen werden konnten. Es handelt sich um ein Grundrecht des Menschen und muss als solches verteidigt und jeden Tag verwirklicht werden.
MCG: Ich stimme Chiara vollumfänglich zu, die Erinnerung an den Kampf der Frauen muss lebendig bleiben. Deshalb ist es wichtig, dass im Historischen Lexikon der Schweiz, aber auch in den Schulbüchern, die Rolle der Frauen besser sichtbar gemacht wird. Mit derselben Absicht habe ich die Website Politfrauen sowie Veranstaltungen zur Teilhabe von Frauen in Politik und Wirtschaft ins Leben gerufen.