In der Evaluation des gedruckten HLS wies Prof. David Gugerli darauf hin, dass die Technikgeschichte im HLS ein Desiderat bilde. Das Projekt zur digitalen Gesellschaft ist ein erster Schritt zur Schliessung dieser Lücke. David Gugerli verfasste mit seinem Team einige Artikel zu diesem Thema und gibt im folgenden Interview Einblicke in das Forschungsfeld und die Zusammenarbeit mit dem HLS.
HLS: Herr Professor Gugerli, wie sind Sie zur Geschichte der digitalen Gesellschaft als Forschungsfeld gelangt?
David Gugerli: 1997 hielt ich meine erste Vorlesung und versuchte im jugendlichen Übermut und mitten im grossen WWW-Hype gegen den Strom zu schwimmen, also etwas zur Geschichte des Internets anzubieten. Als ich einige Jahre später ein Projekt zur Geschichte der ETH leitete, war das Thema - fast möchte man sagen: "natürlich" - nicht mehr zu umgehen und historisch salonfähig geworden. Danach habe ich mich mit Suchmaschinen vor der Suchmaschine und mit der Geschichte von Datenbanken beschäftigt. Das tönt nicht nach einem richtigen Plan, aber es hielt, was ich mir davon versprochen hatte. Da ich mich früher einmal mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigt hatte, schien es mir auch nicht völlig abwegig, das Entstehen einer digitalen Gesellschaft zu untersuchen - zumal die sozialen Medien gerade die Kommunikationsweise der Gegenwart ähnlich umpflügten, wie es die Lesegesellschaften, die gelehrten Journale, die Zeitungen, Enzyklopädien und Romane des 18. Jahrhunderts so wirkmächtig getan hatten.
Sie haben ihr Buch "Wie die Welt in den Computer kam" soeben der Öffentlichkeit vorgestellt und die Fellowperiode "Digital Societies" des Collegium Helveticum läuft noch bis 2020. Sind Sie bereits an der Planung von weiteren konkreten Forschungsvorhaben?
Mit meinem Buch hatte ich für mich einen Schlusspunkt setzen wollen. Ich fürchte, das war ein frommer Wunsch. Die digitale Wirklichkeit ist zwar entstanden (und das Buch fertig geworden ...). Aber die digitale Gesellschaft, die ja lange vor allem im Modus der Zukunft verhandelt wurde, wird jeden Tag noch gegenwärtiger. Darum bleibt es vielleicht nützlich, oder wird sogar notwendig, über die sehr aktuelle Vergangenheit von rechnergestützten Gesellschaften mit all ihren Maschinen, Programmen, Netzwerken, Protokollen, Daten und Usern nachzudenken.
An der Professur für Technikgeschichte der ETH werden wir uns in den nächsten Jahren mit den Entstehungszusammenhängen eines digitalen Föderalismus und der rechnergestützten öffentlichen Verwaltung beschäftigen, aber auch die Frage nach der Autonomie in digitalen Gesellschaften oder die Geschichte der lange schon angekündigten Grenzen des High Performance Computing wollen wir bearbeiten. Dafür sind Kooperationen und (finanzierte) Projekte notwendig, also Dinge, an denen man arbeiten muss, ohne ihren Erfolg wirklich planen zu können.
Das Thema ist brandaktuell. Wie begegnen Sie als Historiker einem Forschungsgegenstand, der sich in rasantem Tempo wandelt?
Ich versuche gegenwärtige Problemlagen mit den Problemlagen der Vergangenheit zu verknüpfen und hoffe mit diesem manchmal auch unstatthaften Vergleich etwas von den paradoxen Lagen in beiden historischen Kontexten zu verstehen. Warum hat man in den 1960er Jahren die Userautonomie dadurch erhöhen können, dass man die User von Betriebssystemen und ihren rigiden Vorschriften überwachen liess? Was bedeuten die überwachte Autonomie für digitale Mobilität, für Roaming und Zugangsbarrieren? Welche Denkzwänge lösen Informatikprojekte vor, während und nach ihrem Scheitern aus? Oder warum scheint es leichter, eine Organisation umzubauen, statt ein Softwarepaket umzuschreiben? Heisst das vielleicht, dass nicht die Implementierung von Programmen, sondern der programmatische Umbau des Betriebs als prioritäres Ziel verstanden werden muss?
Erkennen Sie in der gegenwärtigen Entwicklung der digitalen Gesellschaft und den aktuellen Debatten Strömungen, die sich künftig in der Forschung niederschlagen werden?
Wenn Sie damit die Organisation und die Instrumente der Forschung meinen, ist es gar nicht anders denkbar. Digitale Gesellschaften zeichnen sich durch netzförmige Kommunikationsweisen aus, sie setzen auf überraschende Kombinationsmöglichkeiten von Wissen, sie beginnen verteiltes Handeln zu verstehen, zu nutzen und zu regulieren, sie müssen durch systematisches Filtern und Löschen von Daten zu verlässlichen Aussagen gelangen. Keine Wissenschaft kann so asozial oder borniert sein, dass sie auf diese Angebote gänzlich verzichten wollte.
Wenn Sie damit aber meinen, welche neuen Forschungsfragen absehbar sind, dann muss ich Ihrer Frage ausweichen. Natürlich ist es absehbar, dass wir uns mit neuen Fragestellungen beschäftigen werden. Wie sie lauten und wohin sie uns führen werden, hängt jedoch von vielen Faktoren ab. Denn Forschung muss anschlussfähig sein an Dinge, die uns etwas angehen. Was aber wollen und müssen Menschen in fünf oder zehn Jahren wissen? Welche Fragen werden ihnen unter den Nägeln brennen? Was haben sie bis dahin in Erfahrung gebracht, was hat sich als langweilig, was als ergiebig erwiesen und welche Perspektivierungen sind dazugekommen? Forschung ist nicht planbar, wenn sie Neues und Unerwartetes hervorbringen soll. Nur das Erwartbare lässt sich planen, und dafür brauchen wir keine Forschung.
Auch für ein historisches Lexikon ist das Thema eher ungewöhnlich. Gab es besondere Herausforderungen beim Verfassen der Artikel?
Die gab es tatsächlich. Besonders schwierig ist es wohl, eine für uns und die Leserschaft akzeptable "Flughöhe" der Artikel zu finden, zumal auch viele Begriffe, mit denen ein Beitrag hantieren könnte, entweder sehr voraussetzungsreich oder sehr ahistorisch wirken. Dass die Rede von Daten in den 1950er Jahren etwas anderes meint als in den 1970er Jahren oder um die Jahrtausendwende, ist auf knappem Raum nicht einfach zu erklären. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Geschichte der digitalen Gesellschaft zeitlich und zum Teil auch technisch eng mit der Geschichte der Globalisierung verknüpft ist. Auf den differenzierenden Bezug zur Geschichte der Schweiz wollten wir jedoch nicht verzichten, ohne mit der Rede vom Zürcher "Sihlikon Valley" das kalifornische Standardnarrativ indirekt zu verstärken und die historische Kontextualisierung recht eigentlich zu unterminieren. Und schliesslich haben wir gelernt, dass den Themen mit Definitionsarbeit kaum beizukommen ist. Es nützt wenig, wenn man festhält, dass das Wort Daten eigentlich vom lateinischen "datum" stammt, aber seine grosse Macht erst dann entfalten kann, wenn Daten lange und komplexe Prozeduren durchlaufen haben und deswegen besser "facta" genannt würden. Schliesslich wäre dann immer noch nicht geklärt, ob sie umstandslos mit Fakten gleichzusetzen sind. Das Ganze bliebe ein bildungsbürgerlicher Distinktionsakt, ähnlich der Aufschlüsselung mancher Akronyme, die die Welt der Rechner und ihrer Nutzerinnen seit fast sieben Jahrzehnten beherrscht - von ALGOL und SCALP über ELM und PINE bis SWITCH und INSIEME.
Wie sehen sie die Verankerung des Themas im HLS jetzt und in Zukunft?
Ich hoffe, dass es keiner besonderen Begründungen mehr bedarf, wenn die Verankerung im Plan der HLS-Redaktion zur Verankerung in den Erwartungen der Leserinnen und Leser mutiert. Allerdings rechne ich mit einem beachtlichen Revisionsbedarf - vielleicht muss das HLS sich überlegen, in Zukunft Serviceverträge abzuschliessen, um Themengebiete, deren Historiografie sich schnell verändert, auf attraktive Weise à jour zu halten?
Und zum Schluss: Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Computer, an Ihre erste Begegnung mit einem Computer?
Selbstverständlich erinnere ich mich an meinen ersten Computer. Obwohl - wirklich begegnet sind wir uns, glaube ich, nie und gehörten uns auch nicht. Nicht einmal aufeinander gehört haben wir. Dennoch gingen wir nach meiner Erinnerung 1984 eine ebenso konflikt- wie erfolgreiche Beziehung ein. Alles rein virtuell und im Time-Sharing-Modus. Materiell gab es den Computer für mich nur in Form eines Freedom-Terminals und einer Modemstation, auf dem ein Telefonapparat stand. Das war in der Bibliothek des Instituts, an dem ich damals arbeitete. Mich gab es für den Computer auch nicht wirklich. Für das VM/CMS-System, das am anderen Ende der Stadt rechnete, aber mitten in der Stadt druckte und sich bei mir auf dem Bildschirm ankündigte, war ich der Nutzer k290721, der nie aufgab, sich immer wieder einzuloggen, der manchmal über den Befehl "tell k290720" (das war Sebastian) Nachrichten auf einen anderen Bildschirm schickte, sonst aber erstaunlich schnell kapierte, wie man auf dem Grossrechner schreiben und rechnen konnte. Und wenn es nicht funktionierte, dann habe ich geflucht oder im "RZU info" gelesen, jener xerokopierten Gazette, die den Nukleus der entstehenden digitalen Gesellschaft der Universität Zürich einmal im Monat ziemlich analog markierte. Denn dort wurden neue Regeln festgelegt, alte Regeln in Erinnerung gerufen oder diskutiert, Tricks verraten und die Nutzer zu Mitgliedern einer wachsenden und zunehmend strukturierten Community mit vielen Rollen und Interessen gemacht.
Literaturhinweis:
Gugerli, David: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2018.