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Vom Pfahlbauermythos zum Welterbe

Autorin/Autor: Pierre Corboud
03.04.2019
Gedanken des Archäologen und Prähistorikers Pierre Corboud zur weltweiten Anerkennung, die mit der Aufnahme von 111 Ufersiedlungen in das Unesco-Welterbe 2011 einhergeht.

Die Entdeckung der "Pfahlbauten" im Winter 1854 am Zürichsee war das Gründungsereignis der Schweizer Urgeschichtsforschung. Sie erfolgte zu einem sehr speziellen Zeitpunkt: Auf der einen Seite war der junge, 1848 gegründete Bundesstaat auf der Suche nach gemeinsamen identitätsstiftenden Vorfahren. Auf der anderen Seite begannen Geologen und Historiker, die Schöpfungsgeschichte der Bibel in Frage zu stellen. Dabei gingen sie davon aus, dass der Mensch schon viel früher auf der Erde erschienen war, als man bisher angenommen hatte.

Schrift-, aber nicht geschichtslos

Die Überzeugung, dass schriftlose Gesellschaften sich in unseren Breitengraden schon lange vor den Kelten und Römern niedergelassen hatten, setzte sich damals allmählich durch. Das Auftauchen der Überreste von Dörfern sowie von behauenen bzw. geschliffenen Steinwerkzeugen an unseren Seeufern liess sich durch die Existenz einer sehr alten, so fleissigen wie geschickten Bevölkerung erklären, die würdig schien, in die Rolle der Vorfahren der neuen schweizerischen Eidgenossenschaft zu schlüpfen. Der Reichtum an Fundgegenständen und organischen Materialien, die sich in diesen untergegangenen Siedlungen erhalten hatten, begeisterte auch die Naturwissenschaftler. Dies schlug sich wiederum in einem Dialog zwischen der Natur- und der Geschichtswissenschaft nieder, der später das Fundament für den interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatz, wie er für die moderne prähistorische Forschung typisch ist, legen sollte.

Kulturelles Erbe von Weltgeltung

Pierre Corboud am 4. Juni 2009 bei der Arbeit im Neuenburgersee in der Nähe des Ufers von Chabrey (Universität Genf; Fotografie Christiane Pugin).
Pierre Corboud am 4. Juni 2009 bei der Arbeit im Neuenburgersee in der Nähe des Ufers von Chabrey (Universität Genf; Fotografie Christiane Pugin). […]

Schon bald nach der Entdeckung der Ufer- oder Pfahlbausiedlungen – ein Ausdruck, der heute immer noch gebräuchlich ist – wurden diese als eine Besonderheit der Schweiz angesehen, auch wenn kurze Zeit später ähnliche Siedlungsspuren in den anderen Ländern beidseits der Alpen vorgefunden wurden, zuerst in Deutschland, dann in Italien sowie Frankreich und schliesslich auch in Österreich und Slowenien. Das Bundesamt für Kultur förderte 2004 das Projekt einer Kandidatur für die Aufnahme dieser bemerkenswerten, zugleich auch fragilen Baudenkmäler in das Unesco-Welterbe. Die Fundstellen sollten so besser geschützt und wissenschaftlich umfassend erforscht werden.

Eine überholte romantische Vorstellung

Die anhaltende Popularität, welche den Ufersiedlungen seit ihrer Entdeckung zuteil wurde, beeinträchtigte deren Erforschung und Deutung. Die Inanspruchnahme als identitätsstiftende Vorfahren durch Politik und Kunst liess nämlich ein überaus starres, romantisch verklärtes und simplifizierendes Bild der Pfahlbauer entstehen. Die Archäologinnen und Archäologen, die sich mit den Ufersiedlungen befassten, benötigten Jahrzehnte, um sich von diesen mythischen Vorstellungen zu lösen und diese durch eine realistischere Interpretation zu ersetzen.

Schutz der fragilen Fundstellen

Dank der Aufnahme ins Unesco-Welterbe sind die Schutzmassnahmen für die Siedlungsspuren aus dem Neolithikum und der Bronzezeit langfristig gesetzlich verankert. Trotzdem sind die archäologischen Quellen aus Holz und organischen Materialien sowie die Kulturschichten, die zusammen sozusagen die Archive der jahrtausendelangen Besiedlung der Seeufer und der Feuchtbodengebiete darstellen, weiterhin gefährdet. Den besten Schutz der unsichtbaren Fundstellen, die sowohl natürlichen wie auch vom Menschen ausgehenden Gefahren ausgesetzt sind, garantieren die Vertiefung und Vermittlung der durch die Forschung gewonnenen Kenntnisse über sie. Dieser Aufgabe haben sich die Forscherinnen und Forscher aus der Schweiz und den anderen fünf assoziierten Alpenländern verschrieben, die im Bereich der prähistorischen Archäologie tätig sind.

Das HLS als Wissenschaftspopularisator

Die Veröffentlichung im HLS von forschungsaktuellen Artikeln über die im Unesco-Welterbe figurierenden Pfahlbaudörfer hilft mit, die Erkenntnisse über diese aussergewöhnlichen Kulturdenkmäler zu verbreiten. Besonders erfreulich ist, dass die Artikelserie in naher Zukunft durch weitere Artikel über Fundstellen in der Deutschschweiz ergänzt werden soll. Es ist zu hoffen, dass diese Artikelserie, die als Werkzeug der Wissenschaftsvermittlung sowohl an Fachleute wie auch an ein interessiertes Laienpublikum gerichtet ist, zur Erhaltung der am Seegrund und in den Feuchtböden verborgenen Archive beiträgt.

Luftbild vom Pfahlfeld der Ufersiedlung Chabrey-Pointe de Montbec I in der Gemeinde Vully-les-Lacs (VD) am Südufer des Neuenburgersees, aufgenommen am 2. April 2011 (Schweizer Luftwaffe, Payerne; Fotografie Major Aldo Wicki).
Luftbild vom Pfahlfeld der Ufersiedlung Chabrey-Pointe de Montbec I in der Gemeinde Vully-les-Lacs (VD) am Südufer des Neuenburgersees, aufgenommen am 2. April 2011 (Schweizer Luftwaffe, Payerne; Fotografie Major Aldo Wicki).