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Mittelstand

Mit den Begriffen Mittelstand und Mittelschicht werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Merkmale wie Selbstständigkeit, Beruf, Einkommen und Bildung eine mittlere Stellung in einer Gesellschaft einnehmen. Als soziopolitische Kategorie werden dem Mittelstand eine spezifische Lebensführung und Mentalität, spezifische moralische und politische Wertvorstellungen und ein bestimmtes Gesellschaftsbild zugeschrieben. Als typisches Merkmal des Mittelstands gilt auch dessen Überzeugung, eine staatstragende Funktion auszuüben. Für Fritz Marbach zählten um 1940 jene arbeitenden Gruppen zum Mittelstand, die weder Kapitalisten noch Proletarier waren, die sich keinen Luxus leisten konnten, die auch im Falle eines tiefen Einkommens eine bürgerliche Lebenshaltung anstrebten, die den Grundsatz der Unantastbarkeit des Eigentums anerkannten und den Klassenkampf ablehnten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird meist zwischen dem neuen Mittelstand, der sich aus Angestellten und Beamten zusammensetzt, und dem alten Mittelstand unterschieden, der die Selbstständigen aus Gewerbe, Handwerk, Klein- und Detailhandel und anderen Dienstleistungsbranchen sowie die freiberuflich Tätigen, zum Teil auch die Bauern, umfasst. Inwieweit diese von ihrer ökonomischen und beruflichen Basis her so unterschiedlichen Gruppen tatsächlich eine besondere mittelständische Mentalität und spezifische moralische und politische Wertvorstellungen ausgebildet haben, ist eine offene Frage.

Mittelstand im politisch-sozialen Sprachgebrauch

Für die Beschreibung gesellschaftlicher Unterschiede genügte bis Ende 18. Jahrhundert die ständische Aufteilung in Adel, Klerus, Bürger und Bauern oder das Gegensatzpaar mächtig/reich und arm (Ständische Gesellschaft). Die durch die aristotelische Tradition gestützte Vorstellung, dass das «mittlere Leben» oder der «mittlere Besitz» für die Gesellschaft das Beste seien, und dass nur eine breite mittlere Bürgerschaft Demokratie ermögliche und dauerhaft mache, wurde zwar von der christlichen Ethik des Mittelalters und der frühen Neuzeit übernommen, für die Beschreibung realer gesellschaftlicher Unterschiede hatte dieses Leitbild der vernünftigen Mitte jedoch keine Bedeutung. Erst mit der einsetzenden Auflösung der ständischen Ordnung tauchte das Bedürfnis auf, für die mittleren Bevölkerungsschichten eine eigene zusammenfassende Bezeichnung zu kreieren und so dem wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstsein gemäss ein neues Dreiständemodell begrifflich zu fassen (Bürgertum). Ab 1770 fand das Wort Mittelstand im Deutschen Eingang in die politisch-soziale Sprache. Während der Adel zunehmend kritisiert und vereinzelt sogar als Institution in Frage gestellt wurde, erfuhr der Mittelstand eine Aufwertung. Aufgeklärte Schriftsteller sahen in ihm das dynamische Element in der Gesellschaft und schrieben seinen Angehörigen besondere geistige und sittliche Fähigkeiten zu. Der Mittelstand wurde zu dem Teil der Gesellschaft, der das spezifisch Nationale verkörperte, zum Volk schlechthin; in der deutschsprachigen Literatur wurden jetzt ähnliche Vorstellungen an den Begriff geknüpft wie in den Schriften aus dem revolutionären Frankreich, in denen der Dritte Stand ja mit der Nation gleichgesetzt wurde. Johann Heinrich Pestalozzi beispielsweise sprach vom Mittelstand als dem «Mark des Landes» und machte ihn zum Träger der wieder zu entwickelnden republikanischen Tugenden. Auch im Englischen und Französischen wurde die Brücke zwischen dem aristotelischen Topos der tugendhaften und vernünftigen Mitte und der sozialen Wirklichkeit erst nach 1750 geschlagen, wobei der Begriff des sozial Mittleren zunächst noch keine feste Verbindung mit Wörtern wie «state», «rank» oder «class» bzw. «ordre», «état» oder «classe» einging. So sprach Jean-Jacques Rousseau vom «état médiocre», den er bei den kleinen Landeigentümern und Gewerbetreibenden verortete. Vor und nach 1830 bürgerte sich classe(s) moyenne(s) dann aber vor allem im Zusammenhang mit den Diskussionen um den Wahlzensus als fester Begriff ein. Unter französischem und englischem Einfluss kam zu dieser Zeit im deutschen Sprachraum neben Mittelstand auch der etwas enger gefasste Begriff Mittelklasse(n) stärker in Gebrauch. So auch in der deutschen Schweiz, wo sich die aufsteigenden bürgerlichen Gruppen in Abgrenzung gegen die aristokratischen Oberschichten (Adel, Patriziat) wie gegen die besitzlosen Unterschichten als Mittelklassen bezeichneten und sich als die Träger des sozialen und politischen Fortschritts verstanden. Mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg und der Entmachtung der alten Eliten verlor dieser Begriff nach 1850 an Bedeutung. In Anlehnung an eher konservative, ständische bzw. organische Gesellschaftsauffassungen rückte in der Folge für die Bezeichnung mittlerer sozialer Lebensverhältnisse das Wort Mittelstand wieder in den Vordergrund. Im französischen Sprachraum blieb dagegen classe(s) moyenne(s) gebräuchlich, ein Begriff, der die gesellschaftliche Mitte, den Durchschnitt stärker betonte und den Klassencharakter der Industriegesellschaft weniger versteckte. Im Zeichen der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Mittelstandsideologie wurden unter Mittelstand vor allem die kleineren und mittleren Selbstständigen in Handwerk und Gewerbe bzw. dem Kleinbürgertum sowie teilweise auch die Bauern verstanden. Auch die sogenannte Mittelstandspolitik verfolgte selten mehr als den Schutz und die Förderung des gewerblichen Mittelstands; der neue Mittelstand war davon ausgeschlossen. Im Bild von der Schweiz als einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, das ab den 1950er Jahren das bürgerliche Selbstverständnis, zum Teil auch dasjenige der Arbeiterschaft, zu dominieren begann, hat sich der Begriff Mittelstand unter Betonung seiner ausgleichenden und stabilisierenden Bedeutung für Gesellschaft und Staat allerdings wieder ausgeweitet.

Handwerklich-gewerbliche Mittelschichten in Mittelalter und früher Neuzeit

Titelbild des Werks Über die Bewegung der Bevölkerung [...] in Appenzell, Rheineck (SG) und Gaissau (Vorarlberg) von Titus Tobler, 1835 in St. Gallen erschienen (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelbild des Werks Über die Bewegung der Bevölkerung [...] in Appenzell, Rheineck (SG) und Gaissau (Vorarlberg) von Titus Tobler, 1835 in St. Gallen erschienen (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Im Unterschied zur agrarisch-feudalen Ordnung waren in der geld- und erwerbswirtschaftlich orientierten Stadtgesellschaft und ihrer arbeitsteiligen Wirtschaft die soziale Position und ihre Zuordnung auf einen bestimmten sozialen Rang durch die Rechtsordnung nicht strikt vorgeschrieben. Neue Formen der marktlichen Subsistenzbegründung ― freie Lohnarbeit, Handwerk, Handel, Unternehmertum, Vermietung und Verpachtung, Rentenkauf, Finanzgeschäfte, Kapitalverwertung in Handel und Verlag ― eröffneten der städtischen Bevölkerung grosse Chancen zu individuellem oder kollektivem sozialem Aufstieg. Reichtum, Besitz und Vermögen stärkten aber nicht nur das Selbstbewusstsein des Stadtbürgertums bzw. die Position der bürgerlichen Handwerker, Händler und Kaufleute gegenüber der Herrschaft, den herrschaftlichen Ministerialen und dem Stadtadel, sondern sie entwickelten sich rasch auch zu einem fundamentalen sozialen Unterscheidungskriterium. Trotz rechtlicher Gleichheit ― die städtischen Bürger bildeten ja an sich einen Stand ― etablierte sich innerhalb der städtischen Bürgerschaft bzw. Einwohnerschaft eine auf sozialen Merkmalen beruhende Differenzierung. Unterhalb der (patrizischen) Ober- und Führungsschicht entwickelten auch die meist in Zünften zusammengeschlossenen Handwerker und Vertreter der verschiedenen Gewerbezweige eine eigene Berufs- und Arbeitsehre, die sich am Prinzip der Nahrung, d.h. der Sicherung eines angemessenen Lebensunterhaltes orientierte. Mit ihren kleinen und mittleren Vermögen bildeten die kleinen Kaufleute, Krämer, Handwerker, Freiberufler und Beamten oder städtischen Bediensteten bis ins 19. Jahrhundert in den meisten Städten den Kern der Mittelschicht. Eher zur oberen Mittelschicht gehörten die mittleren Ränge der Kaufmannschaft, nicht mehr im Handwerklichen verankerte Unternehmer oder Verleger, Handwerker mit starker Handelskomponente, Stadtschreiber, Notare sowie Advokaten. Unselbstständige Handwerker, Handwerksgesellen und Handelsdiener bildeten als untere Mittelschicht den fliessenden Übergang zur Unterschicht. Indem sie ihre sozioökonomische Position durch die Fixierung der Anzahl der Meisterstellen, Massnahmen gegen die Konkurrenz des ländlichen Handwerks und eine restriktive Aufnahmepraxis ins Bürgerrecht sicherten, schotteten sich auch die handwerklich-gewerblichen Kreise seit dem 16. Jahrhundert immer stärker gegen unten ab. In Städten, in denen die Zünfte über grossen Einfluss verfügten und deshalb normalerweise nur Stadtbürger handwerklich-gewerbliche Tätigkeiten ausüben durften, führte dies zu einer zahlenmässigen Schwächung der handwerklich-gewerblichen Mittelschichten. In Zürich sank ihr Anteil unter den Bürgern von 78% um 1600 auf 49% um 1790. In Städten wie Bern, die auch Nichtbürgern in Gewerbe und Handel Freiräume zugestanden, gehörten dagegen aufgrund ihres Besitzes und Einkommens immer mehr zugezogene Familien (Hintersassen, Ewige Einwohner) zur Mittelschicht, während gleichzeitig besitzlose Bürger in die Unterschichten absanken. Dadurch verwischten sich die rechtlich bzw. ständisch fixierten Grenzen zwischen eingesessenen Stadtbürgern und Zugezogenen minderen Rechts; die ständische Gliederung wurde unterhöhlt. Wie in den Städten waren auch in den Dörfern bzw. auf dem Land die sozialen Unterschiede innerhalb der handwerklich-gewerblichen Bevölkerung sehr gross. Die Mehrheit der ländlichen Handwerkerfamilien hatte kein oder nur ein knappes Einkommen und war deshalb eher der Unter- als der Mittelschicht zuzuordnen. Gewerbetreibende wie Händler, Wirte oder Müller gehörten dagegen oft zur Oberschicht.

Der (alte) Mittelstand im 19. und 20. Jahrhundert

Die Durchsetzung einer liberalen Wirtschaftsordnung, d.h. die Einführung der Gewerbefreiheit sowie die Aufhebung staatlicher Regulierungen zugunsten des Markt-, Konkurrenz- und Leistungsprinzips, und die Industrialisierung bewirkten einen tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel: Ganze Handwerks- und Gewerbezweige verschwanden oder konnten nur noch als Zulieferer- oder Reparaturbetriebe weiterexistieren. Der aufkommende Kapitalismus bedrohte aber nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die soziale Stellung des gewerblich-handwerklichen Mittelstands. Bereits in den 1830er Jahren wurde auf die Gefahr der Auflösung des Mittelstands hingewiesen. So beklagte der Appenzeller Titus Tobler als Grundübel der Gesellschaft, dass der bäuerliche und gewerbliche Mittelstand von Tag zu Tag kleiner werde, dass überaus viele Leute keine unbeweglichen Güter besässen und sich gefallen lassen müssten, was die «Zeitlaune» mit ihnen anfange. In einem Gutachten zählte die Zürcher Regierung das Handwerk 1847 zwar generell zum Mittelstand, räumte aber zugleich ein, dass nurmehr ein kleiner Teil der Handwerker wirklich dem «glücklichen Mittelstande» angehöre, die meisten ständen eher dem Proletariat (Arbeiter) nahe. Ungeachtet der realen Entwicklungen und Veränderungen wurde nach 1850 die Vorstellung vom Niedergang des Mittelstands zu einem Topos, der sowohl in hoffnungs- wie in angstvollen Zukunftsentwürfen instrumentalisiert wurde. Während die Konservativen den Mittelstand zum Schutzwall gegen die zersetzenden Kräfte des Kapitalismus und die bedrohliche Proletarisierung erhoben, erklärte die sozialistische Seite seinen Untergang zur zwangsläufigen Folge der gesellschaftlichen Entwicklung, die auf die Ausbildung einer Zweiklassengesellschaft hinauslaufe (Klassengesellschaft). Sozialliberale Reformer erhofften sich dagegen von der Industrialisierung eher eine Erweiterung mittelständischer Lebensweise. Die Angestellten, aber auch Facharbeiter waren für sie der Beweis, dass die Industriegesellschaft sozialen Aufstieg zuliess und dadurch auch die mittleren Klassen wieder stärkte. Zwar verlor die Selbstständigkeit an ökonomischer und gesellschaftlicher Bedeutung, entgegen den Voraussagen von rechts und links profitierte der selbstständige Mittelstand jedoch auch vom wirtschaftlichen Wandel. Er konnte sich dank der Erschliessung neuer Betätigungsfelder behaupten, auch wenn sein zahlenmässiger Rückgang nicht aufzuhalten war: 1860 übten in der ganzen Schweiz 21% der erwerbstätigen Männer und Frauen eine selbstständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit aus, dazu kamen 16% selbstständige Bauern; 1888 waren es noch 14%, inklusive Bauern 30%. Um 1910 umfasste der alte Mittelstand, d.h. ohne die industriellen und gewerblichen Unternehmer sowie die Grosskaufleute, 11,9% der Erwerbenden, die Bauern stellten weitere 11,6%. Den Angestellten als dem neuen Mittelstand gehörten 1910 10,2% an. Im 20. Jahrhundert nahm der Anteil der Selbstständigen weiter ab, besonders nach 1950 beschleunigte sich sein Rückgang: 1941 umfasste er inklusive Bauern 21%, 1960 noch 14,5%, 1980 noch 9,7%. In den 1980er Jahren stieg er infolge der neuen Selbstständigkeit, vor allem im Dienstleistungsbereich, wieder auf über 10% an und erreichte 2000 14%.

Mittelstandsideologie

Plakat der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei von 1951 (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).
Plakat der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei von 1951 (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).
«Unser Ziel: eine zeitgemässe Politik, mit einer neuen Mannschaft; wählt den Mittelstand». Plakat für die Wahlen 1945, gedruckt durch Lithos A. Marsens in Lausanne (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).
«Unser Ziel: eine zeitgemässe Politik, mit einer neuen Mannschaft; wählt den Mittelstand». Plakat für die Wahlen 1945, gedruckt durch Lithos A. Marsens in Lausanne (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).

Der Mittelstand, oft mit dem Bürgertum gleichgesetzt, galt in der Schweiz bis Ende 19. Jahrhundert als Träger des sozialen und politischen Fortschritts. Insbesondere die Demokraten sahen in einer «vermittelnden Klasse» (Simon Kaiser), deren Angehörige zwar auch auf Lohnarbeit angewiesen waren, aber zudem über weitere Produktionsfaktoren wie Grundeigentum und Kapital verfügten, eine Garantie für das soziale Gleichgewicht. Der wachsenden Spaltung der Klassen stellten sie ein mittelständisches Sozialmodell gegenüber, das die Einheit von Mittelstand und Arbeiterschaft postulierte. Auch glaubten sie mit der Demokratie die Proletarisierung aufhalten und den Mittelstand wieder stärken zu können. Konservative, gewerbliche und bäuerliche Kreise funktionierten den Ausdruck Mittelstand ab Ende der 1880er Jahre zu einem defensiven Kampf- und Bekenntnisbegriff um. Der Mittelstand wurde zum stabilen Fundament von Staat und Gesellschaft, zum Träger der Nation erklärt, ja zum Synonym für das Volksganze. Gleichzeitig wurde der Begriff enger ausgelegt und seine Anwendung auf die mittleren und kleinen Selbstständigen beschränkt. Dieses Selbstbild des Mittelstands, entstanden aus einer defensiven Haltung gegen die Folgen des wirtschaftlichen Wandels, war mit seiner Überschätzung der eigenen wirtschaftlichen und soziopolitischen Bedeutung, die im Glauben an die eigene Unentbehrlichkeit gipfelte, eine typische Kompensationsideologie. Es war geprägt von der Angst vor der Proletarisierung und vor dem zahlenmässigen Rückgang des gewerblichen bzw. bäuerlichen Mittelstands; viele Gewerbetreibende und Bauern befürchteten, von den Angestellten und Arbeitern der industriellen Grossbetriebe, deren Anzahl und Macht stets zunahm, überspielt zu werden. Als eine Art Kollektivmentalität sollte diese Ideologie die unterschiedlichen Klassenlagen der kleineren und mittleren Selbstständigen überdecken, ihnen Orientierung und Sicherheit vermitteln, sie wirksam und dauerhaft gegen die Arbeiterschaft bzw. das Grosskapital zusammenschliessen und ihren Forderungen nach staatlichem Schutz die notwendige Legitimation liefern. In ihren Grundzügen lehnte sie sich an die aus Deutschland kommende Mittelstandsideologie konservativer Gruppen an, die zum Teil über Ernst Laur in die Schweiz gelangten; zum anderen erhielt sie wesentliche Impulse durch die katholisch-konservative Soziallehre. Mit der Verschärfung der sozialen Verteilungskämpfe und der zunehmenden Organisierung der Interessen entwickelte sie sich im frühen 20. Jahrhundert zur klassischen Puffertheorie. Der bäuerliche und gewerbliche Mittelstand wurde als Inbegriff der bewahrenden gegen die zersetzenden Kräfte verstanden, als Schutzwall gegen dekadente grossstädtische Zivilisation, als Hort der gesunden Mitte gegen Kapitalismus, gegen grossindustrielle Produktion und gegen Marxismus. Ihre grösste Breitenwirkung erlangte diese Mittelstandsideologie, die jedwelche gesellschaftliche Erneuerung ablehnte, in der Krise der 1930er Jahre. Mit der Wende in der Gewerbepolitik um 1941 erfuhr die gewerblich-mittelständische Verbandsideologie gewisse Akzentverschiebungen. Die antimodernistische Abwehrhaltung trat zugunsten des Leitbildes produktivitätsorientierter Rationalisierung sowie individueller und verbandlicher Selbsthilfe zurück. Im Zeichen des Neoliberalismus galten die mittleren und kleineren Betriebe als «Bollwerke individueller Freiheit» und die Massnahmen zur Erhaltung des Mittelstands wurden als Sozialpolitik legitimiert.

Mittelstandspolitik und -bewegung

Als Befürworter von Schutzzöllen bzw. staatlichen Schutzmassnahmen versuchten gewerblich-handwerkliche Kreise den Bundesstaat schon in seinen Anfängen für ihre spezifischen Interessen einzusetzen. Ein erster Markstein staatlicher Intervention zugunsten des gewerblichen Mittelstands waren die Bundesbeschlüsse zur Förderung der gewerblichen und industriellen Berufsbildung von 1884. Noch 1894 wurde dem Bund jedoch die vom schutzsuchenden Kleingewerbe geforderte Kompetenz zur Gesetzgebung über das Gewerbe verweigert. Erst 1908 erhielt der Bund im Artikel 34ter der alten Bundesverfassung (vor 1999, aBV) mehr Kompetenzen auf dem Gebiet der Gewerbegesetzgebung. Im Unterschied etwa zum Deutschen Reich wurde von einer allgemeinen Gewerbeordnung abgesehen und dem Erlass von Spezialgesetzen der Vorzug gegeben. Aufgrund von Artikel 34ter wurden zuerst die Berufslehre und die Berufsbildung staatlich geregelt. Einzelgesetze und bundesrätliche Verordnungen dämmten den freien Wettbewerb im Gewerbe ein, so zum Beispiel das Warenhausverbot von 1933, das bis 1945 immer wieder verlängert wurde. Von der Krisenzeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts an hatten das Gewerbe und mittelständisch orientierte Kreise erfolglos versucht, eine kartellmässig-berufsgenossenschaftlich gebundene Wirtschaft vom Staate schützen und sanktionieren zu lassen, um so selbstständige gewerbliche Klein- und Mittelbetriebe zu erhalten. Ab den 1920er Jahren setzten sich Teile des Schweizerischen Gewerbeverbandes, vor allem dessen Präsident August Schirmer, für eine Art korporative Wirtschaftsordnung ein (Korporativismus). Unter dem Druck der Krise formierte sich um 1933 mit der Neuen Schweiz eine mittelständische Erneuerungsbewegung, die mit ihren wertkonservativen Leitbildern und Kriseninterpretationen kurz auch eine politische Breitenwirkung erlangte. Eine prononcierte Mittelstandspolitik vertrat in den 1930er Jahren auch die Konservative Volkspartei, die ebenfalls antimodernistisch ausgerichtet war. Als katholische Allklassenpartei mit mittelständischem Gepräge machte sie sich unter dem Einfluss der Enzyklika «Quadragesimo Anno» für eine korporativistisch-ständestaatliche Wirtschafts- und Sozialordnung stark. Mit einer Reform von rechts wollten die Katholisch-Konservativen den Kapitalismus und Liberalismus in die Schranken weisen, den Klassenkampf überwinden und eine solidarische Volksgemeinschaft errichten. Wie in vorindustrieller Zeit sollte durch den Wiederaufbau einer berufsständischen Ordnung die selbstständige Erwerbstätigkeit anstatt der «Plutokratie des Grosskapitals» zum eigentlichen Träger von Produktion und Handel werden. Der Schweizerische Gewerbeverband und die Konservativen drangen zwar mit ihren Reformvorstellungen nicht durch; sie erreichten aber immerhin, dass der Kriseninterventionismus der Zwischenkriegszeit von einer Intensivierung mittelständisch-korporativer Wirtschaftspolitik geprägt war und unter modernisierungsfeindlichen Vorzeichen stand. Mit der Absage an berufsständische Ordnungsvorstellungen und einen staatlich sanktionierten Verbandsprotektionismus erfolgte um 1942 zunächst im Gewerbeverband, später auch in der Wirtschaftspolitik allgemein eine Wende hin zu einer mehr liberalkorporativen Ausrichtung. Verzicht auf direkte Staatshilfe, konsequenter Antietatismus, Modernisierung und Rationalisierung im Gewerbe durch den Aufbau leistungsorientierter Markt- und Berufsordnungen sowie die Hilfe zur Selbsthilfe auf Betriebs- und Verbandsebene sollten von nun an die zentralen Ziele gewerblicher Mittelstandspolitik sein. Durch die staatsrechtliche «Unterordnung» der Verbände in den Wirtschaftsartikeln grenzte sich 1947 die schweizerische Verfassung gegen normativ-rechtliche Ansprüche ständestaatlich-korporativistischer Modelle ab.

Quellen und Literatur

  • T. Tobler, Über die Bewegung der Bevölkerung, 1835
  • S. Kaiser, Grundsätze schweiz. Politik, 1873
  • A. Richard, Les classes moyennes en Suisse, 1906
  • F. Marbach, Theorie des Mittelstands, 1942
  • Eidg. Volkszählungen 1850-2000
  • G.L. Duprat, L'avenir des classes moyennes, 1923
  • R. Aron et al., Inventaires 3, Classes moyennes, 1939
  • Gruner, Arbeiter
  • E. Gruner, «Konservatives Denken und konservative Politik in der Schweiz», in Rekonstruktion des Konservativismus, hg. von G.K. Kaltenbrunner, 1972, 241-272
  • E. Maschke, «Mittelschichten in den dt. Städten des MA», in Städt. Mittelschichten, hg. von E. Maschke, 1972, 1-31
  • W. Conze, «Mittelstand», in Geschichtl. Grundbegriffe 4, hg. von O. Brunner et al., 1978, 49-92
  • B. Mugglin, Olten im Ancien-Regime, 1982
  • Braun, Ancien Régime
  • A. Daumard, Les bourgeois et la bourgeoisie en France depuis 1815, 1987
  • E. Isenmann, Die dt. Stadt im SpätMA 1250-1500, 1988
  • K. Angst, Von der "alten" zur "neuen" Gewerbepolitik, 1992
  • M. Hodel, Die Schweiz. Konservative Volkspartei 1918-1929, 1994
  • G. Crossick, H.G. Haupt, The Petite Bourgeoisie in Europe 1780-1914, 1995
  • Regards sur les classes moyennes, XIXe et XXe siècles, hg. von P. Guillaume, 1995
  • A. Tanner, Arbeitsame Patrioten ― wohlanständige Damen, 1995
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Tanner: "Mittelstand", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.08.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013791/2009-08-25/, konsultiert am 19.03.2024.