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Kindesmord

Der Begriff Kindesmord bezeichnet im engeren Sinne die vorsätzliche Tötung eines meist ausserehelich gezeugten Kindes unmittelbar nach der Geburt (Illegitimität, Unzucht). Dabei handelt es sich nicht nur um die gewaltsame Tötung, sondern ebenso häufig um eine Geburt unter unhygienischen, schlechten Umständen oder das Sterbenlassen des Kindes durch Vernachlässigung nach der Niederkunft (z.B. durch Nichtabbinden der Nabelschnur). Häufigere Formen des Umgangs mit nicht erwünschtem Nachwuchs bilden Abtreibung und Kindesaussetzung.

Im römischen Recht wurde der Kindesmord 374 zum Kapitalverbrechen erklärt, im germanischen Recht war er überhaupt nicht als spezieller Tatbestand des Mordes bekannt. In gewissen Fällen besass das Familienoberhaupt ein Tötungsrecht. Seitens der Kirche stets geächtet, verfolgte die weltliche Obrigkeit den Kindesmord ab Mitte des 16. Jahrhunderts intensiv. Die Artikel der Carolina (1532) betreffend Kindesmord blieben auch im Gebiet der Schweiz bis ins 19. Jahrhundert Grundlage für die Feststellung des Tatbestands: Im Normalfall kam nur eine ledige Mutter als Täterin in Frage, die vorher schon Schwangerschaft und Geburt verheimlicht hatte. Das Gerichtsverfahren drehte sich gewöhnlich um die Frage, ob ein Kind vorsätzlich getötet oder schon tot geboren worden war. Strafmass war die bereits im Mittelalter häufig ausgesprochene Todesstrafe, da der Kindesmord als besonders verwerfliches Delikt galt: Das getötete Kind war hilflos und «unschuldig», womit die Täterin gegen das Frauenbild der liebenden Mutter handelte. Wenn das Kind ohne Nottaufe gestorben war, wurde der Mutter auch zur Last gelegt, dass sie ihm das ewige Seelenheil vorenthalten hatte.

Eine Magd wirft am 7. Dezember 1508 ihr Neugeborenes bei der städtischen Mühle Luzerns in die Reuss. Illustration aus Diebold Schillings Luzerner Chronik, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Eine Magd wirft am 7. Dezember 1508 ihr Neugeborenes bei der städtischen Mühle Luzerns in die Reuss. Illustration aus Diebold Schillings Luzerner Chronik, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

Die Sonderstellung des Kindesmords im heutigen Strafrecht wurzelt in der aufklärerischen Debatte des späten 18. Jahrhunderts. Die Kindesmörderin wurde zur literarischen Figur. Ausserdem entwickelte sich der Kindesmord zum Schlüsseldelikt der Strafrechtsreform des 18. Jahrhunderts. Die Schriften zu diesem Thema (u.a. von Johann Heinrich Pestalozzi) richteten sich einerseits gegen die Armut, in die eine Frau durch uneheliche Mutterschaft geriet, andererseits gegen die Gesetzgebung. Zur Verhinderung des Kindesmords sollte der Staat unter anderem die Unzuchtsstrafen mildern, Alimentationsregelungen verbessern und Findel- und Gebärhäuser errichten. Im 19. Jahrhundert wurde Kindesmord zunehmend zum strafrechtlich privilegierten Tötungstatbestand, der die subjektive Notlage der Täterin, ihre verminderte Zurechnungsfähigkeit in der Geburtssituation und den Zustand des Kindes bei der Geburt (Behinderte) als mildernde Umstände berücksichtigte. Sukzessive aufgehoben wurden auch Massnahmen zur Verhinderung der ausserehelichen «Unzucht» und die Überwachung der ledigen Schwangeren (u.a. Anzeigepflicht für ledige Schwangere und für Hebammen bei unehelichen Geburten), um Abtreibung, Kindesaussetzung und Kindesmord zu verhindern.

Die Täterinnen stammten im 19. Jahrhundert meist aus der ländlichen Unterschicht, waren häufig fremd in der Stadt und als Dienstmagd tätig. Sie hatten sich bereits durch ihre nichteheliche sexuelle Beziehung strafbar gemacht, konnten aber in ihrer Stellung keine eigene Familie gründen. Im 20. Jahrhundert lässt sich ein deutlicher Rückgang der gemeldeten Fälle von Kindesmord konstatieren (1876 31; 1900 30; 1950 13; 1968 6), der unter anderem auf eine Verminderung der sozialen Disziplinierungsmassnahmen gegenüber ledigen Müttern und bessere Bedingungen für heiratswillige Paare zurückzuführen ist.

Quellen und Literatur

  • A. Denzler, Jugendfürsorge in der alten Eidgenossenschaft, 1925
  • N. Jilek, L'infanticide à Genève aux XVIIe et XVIIIe siècles (1600-1798), Liz. Genf, 1978
  • K. Arnold, Kind und Ges. in MA und Renaissance, 1980
  • P. Henry, Crime, justice et société dans la Principauté de Neuchâtel au XVIIIe siècle (1707-1806), 1984, 581-588
  • D. Hoof, «"Und der Pfarrer befahl augenblicklich, die Schwangere aus dem Dorf fortzuschaffen"», in ZTb 1985, 1984 50-77
  • K. Grütter, «"Weil ich fürchtete, aus der Stadt entfernt zu werden ..."», in Itinera 2/3, 1985, 106-119
  • R. Roth, «Justice et médecins face à l'infanticide à Genève au XIXe siècle», in Gesnerus 34, 1987, 113-128
  • R. van Dülmen, Frauen vor Gericht, 1991
  • H.W. Schwarz, Der Schutz des Kindes im Recht des frühen MA, 1993
  • Illegitimität im SpätMA, hg. von L. Schmugge, B. Wiggenhauser, 1994
  • M. Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord, 1995
  • C. Furger, «"Ich war in einer fürchterl. Angst und Verwirrung, es machte entsetzlich in mir ..."», in Gfr. 156, 2003, 5-93
Weblinks

Zitiervorschlag

Markus Lischer: "Kindesmord", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.08.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016117/2007-08-10/, konsultiert am 28.03.2024.