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Industriegesellschaft

Die Idee der Industriegesellschaft als historisch neuartige Gesellschaftsform wurde vom französischen Gesellschaftstheoretiker Claude Henri de Saint-Simon (1760-1825) mitentwickelt und später von Auguste Comte (1798-1857) und Herbert Spencer (1820-1903) aufgegriffen (Sozialer Wandel). Wie im Fall der marxistischen Gesellschaftsmodelle bestimmen auch hier hauptsächlich die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse die Gesellschaftsform. Der Begriff litt ab dem späten 19. Jahrhundert daran, dass es nie zu einer klaren Unterscheidung zwischen Industriegesellschaft und kapitalistischer Gesellschaft kam (Kapitalismus). Dies führte vor allem im 20. Jahrhundert zu Diskussionen darüber, ob nur eine Art von Industriegesellschaft existiere, nämlich diejenige gemäss europäischem und nordamerikanischem (marktorientiertem) Modell, oder ob die Entwicklung kulturspezifisch geprägt sei. Nach 1945 wurde im Gefolge des Ost-West-Gegensatzes zwischen kapitalistischen und sozialistischen Industriegesellschaften unterschieden (Sozialismus).

Der Begriff Industriegesellschaft wurde mit Blick auf den Wandel von einer agrarischen zu einer industriellen Produktionsweise meist als Gegensatz zur Agrargesellschaft sowie als Synonym für die kapitalistische Gesellschaft verwendet. Mit steigendem Anteil an tertiären Arbeitsplätzen (Dienstleistungssektor) und dem Rückgang industrieller Arbeitsplätze rückte die Industriegesellschaft zur mittleren Phase in einem dreistufigen gesellschaftlichen Wandlungsprozess auf. Die erste Phase bildete nun die häufig stark familial organisierte Agrargesellschaft, in der landwirtschaftliche Produktionsverhältnisse vorherrschten (Landwirtschaft). Die zweite Phase brachte den Durchbruch industrieller Produktionsverhältnisse, der mit einer neuen Gestaltung des Verhältnisses von Produktion und Verbrauch (u.a. Massenproduktion und Massenkonsum), einer systematischen Umsetzung wissenschaftlicher und technischer Innovationen sowie der Verankerung maschineller Produktion gekoppelt war (Industrialisierung). Von einer Industriegesellschaft wird gesprochen, wenn der 1. Sektor weniger als die Hälfte aller Arbeitskräfte umfasst. Auf die Industriegesellschaft folgte die Dienstleistungs- oder sogenannte postindustrielle Gesellschaft, die sich über den Rückgang von Industriearbeitsplätzen und die Zunahme an Dienstleistungstätigkeiten definiert. Für diese dritte Phase wird heute auch der Begriff Informationsgesellschaft verwendet, der auf den Wandel der Kommunikations- und Informationstechnologien verweist.

Die Schweiz war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eine vorwiegend agrarisch geprägte Gesellschaft, denn um 1800 arbeiteten zwei Drittel der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft. Der Übergang zur Industriegesellschaft erfolgte vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits 1888 fanden 41% aller Erwerbstätigen in Industrie und Gewerbe einen Arbeitsplatz, während der 1. Sektor noch 37% der Erwerbstätigen auf sich vereinte. In den folgenden Jahrzehnten sank der Anteil der landwirtschaftlichen Arbeitsplätze weiter, hauptsächlich zugunsten der Industrie. Eng mit dieser Entwicklung verbunden war der Aufstieg einer gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft, der Ausbau nationalstaatlicher Institutionen und die Zunahme der Bürokratisierung. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern stellte die Schweiz aber einen Sonderfall dar, weil sie eine «Industrialisierung ohne Urbanisierung» durchmachte. Ihren Höhepunkt erlebte die Industriegesellschaft in der Schweiz um 1960, als 50,6% aller Erwerbstätigen in der Industrie und im Gewerbe Arbeit fanden. Seither hat sich die Schweiz wie andere europäische Länder zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. 2009 beschäftigte der 3. Sektor 73,4% aller Erwerbstätigen.

Quellen und Literatur

  • R. Levy, Die schweiz. Sozialstruktur, 1982 (51997)
  • H. Siegenthaler, «Die Schweiz 1910-1970», in Europ. Wirtschaftsgesch. 5, hg. von C.M. Cipolla, K. Borchardt, 21986, 245-276
  • J.-F. Bergier, Wirtschaftsgesch. der Schweiz, 21990
  • The Blackwell Dictionary of Twentieth-Century Social Thought, hg. von T. Bottomore, W. Outhwaite, 1993
  • Sozialber. 2000, hg. von C. Suter, 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

François Höpflinger: "Industriegesellschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025614/2012-06-13/, konsultiert am 17.04.2024.