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Bürgerliche Parteien

Zu den bürgerlichen Parteien der Schweiz zählen Anfang des 21. Jahrhunderts die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP), die Liberale Partei (LP), welche sich am 1. Januar 2009 mit der FDP zusammenschloss, die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), die Schweizerische Volkspartei (SVP) und verschiedene kleinere Parteien, welche in der Parteienlandschaft rechts angesiedelt sind. Das Attribut "bürgerlich" wird dabei sowohl als positive Selbst- wie auch als negative Fremdbezeichnung des Gegners, zum Beispiel von Seiten der Sozialdemokratischen Partei, verwendet. Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bildete der Gegensatz von Bürgerlichen und Linken die wichtigste Trenn- und Konfliktlinie der Schweizer Politik. Wegen des Verhältniswahlrechts im Bund bzw. in den grossen Kantonen verfügt keine der bürgerlichen Parteien über eine Mehrheit, so dass sie zur Erreichung ihrer Wahl- und Sachziele oft zusammenarbeiten müssen bzw. als sogenannter Bürgerblock auftreten. Der Majorz bei Exekutivwahlen in Kantonen und Gemeinden und die Notwendigkeit der Mehrheitsbeschaffung bei Volksabstimmungen verstärken diese Blockbildung. Damit erreichen die bürgerlichen Parteien auf allen drei staatlichen Ebenen fast immer eine Mehrheit, allerdings eingeschränkt durch das Referendum und das Prinzip der freiwilligen Konkordanz (Konkordanzdemokratie).

Gemeinsames Plakat der vier bürgerlichen Parteien im Kanton Basel-Stadt für die Nationalratswahlen vom 30. Oktober 1955 (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).
Gemeinsames Plakat der vier bürgerlichen Parteien im Kanton Basel-Stadt für die Nationalratswahlen vom 30. Oktober 1955 (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).

Die Schweiz gehört zu jenen Ländern Europas, in denen sich bürgerliche Parteien am längsten und erfolgreichsten an der Macht halten konnten. Die im europäischen Vergleich frühe Industrialisierung und die Umstürze der 1830er und 1840er Jahre in diversen Kantonen brachten den Liberalismus und seine Vertreter aus bäuerlichen, gewerblichen und industriellen Kreisen an die Macht. Im 1848 verwirklichten Bundesstaat konnten diese ihre Vormachtstellung sichern und ausbauen (Radikalismus); der politische und wirtschaftliche Liberalismus zählte schon früh zum Kern der bürgerlichen Kultur des Landes. Die geringe Proletarisierung, die auf das weitgehende Fehlen einer Schwerindustrie und die erst spät einsetzende Urbanisierung zurückzuführen ist, und der geringe Organisationsgrad der schweizerischen Arbeiterschaft begünstigten die Dominanz des Bürgertums. Ende des 19. Jahrhunderts kooptierten die Freisinnigen, die als Gründer des Bundesstaats die Mehrzahl wichtiger Funktionen in Wirtschaft, Staat, Wissenschaft, Militär und Presse besetzt hielten, wegen der Vetowirkung des Referendums die Katholisch-Konservativen in den Bundesrat und integrierten diese in das bürgerliche Lager. Die ab Mitte der 1880er Jahre erstarkende Arbeiterbewegung liess die bürgerlichen Parteien enger zusammenrücken; der Landesstreik festigte ihre Stellung zusätzlich. Nach der Einführung des Proporzes bei den Nationalratswahlen 1919 spalteten sich die Bauern und Gewerbler vom Freisinn ab und formierten sich als Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP). Da der Freisinn in der Bundesversammlung über keine Mehrheit mehr verfügte, musste er die bürgerliche Blockbildung mit den Katholisch-Konservativen und der BGB verstärken. Die Krisen der 1930er Jahre erzeugten Spannungen auch im bürgerlichen Lager, in dem der rechte Flügel der bürgerlichen Parteien zu einer korporatistisch inspirierten Verfassungsrevision tendierte; zudem begründete Gottlieb Duttweiler mit seinem Landesring der Unabhängigen (LdU) eine innerbürgerliche Oppositionsbewegung, die allerdings erst in den 1950er Jahren Erfolge erzielte. Versuche einer faschistischen Abspaltung fanden im bürgerlichen Lager nur geringe Resonanz. Zwischen bürgerlichen Parteien und Linken kam es im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs zu einer Verständigung über die zentralen Streitpunkte Armee und Landesverteidigung; dies ermöglichte 1943 die Wahl des ersten Sozialdemokraten in die bis anhin rein bürgerliche Landesregierung.

Dank des Wirtschaftsaufschwungs und der damit verbundenen Verbesserung der schweizerischen Lebensverhältnisse sowie des weit verbreiteten Antikommunismus konnte sich die Dominanz der bürgerlichen Parteien auch nach dem Zweiten Weltkrieg halten. In den 1950er Jahren brachen die Katholisch-Konservativen die langjährige Bundesratsmehrheit des Freisinns und schwächten den rechten Flügel des bürgerlichen Lagers, indem sie die Zweiervertretung der Sozialdemokratie im Bundesrat erzwangen. Die Konkordanzdemokratie, die den Parteien zugleich Regierungsbeteiligung und Opposition ermöglichte, verhinderte ein sozialdemokratisches Gegenmehr, welches die bürgerlichen Parteien aus ihrer Mehrheitsstellung hätte verdrängen können. Auch dank dieser Offenheit blieb die bürgerlich dominierte Zauberformel bis ins 21. Jahrhundert stabil. In Zusammenhang mit dem Wertewandel, dem sogenannten Überfremdungsproblem und der ökologischen Frage entstanden in den 1960er und 1970er Jahren neue politische Bewegungen (Nationale Aktion, POCH, Grüne Parteien, Frauenbewegung). Das komplexe institutionelle Gefüge des schweizerischen Regierungssystems hielt das herkömmliche Parteiensystem zusammen, erzwang aber auch Anpassungen der bürgerlichen Politik an die Forderungen dieser neuen Bewegungen. Die geopolitischen Veränderungen in den 1980er und 1990er Jahren (europäische Einigung, Zusammenbruch des Kommunismus) forderten vor allem die bürgerlichen Parteien heraus und deckten deren Uneinigkeit bezüglich des Beitritts zu UNO, EWR und EU sowie der Frage der Neutralität auf. Die Freisinnigen büssten insbesondere in der Deutschschweiz in dem Masse ihre Führungsrolle ein, in dem die integrierende Kraft ihres Antikommunismus schwand, sich die Wirtschaftselite vermehrt auf internationale Tätigkeiten konzentrierte und sich der Partei entfremdete. Von der ideologischen Uneinigkeit und Schwäche im Bürgerblock profitierte der populistisch agierende, charismatische Zürcher Nationalrat und Unternehmer Christoph Blocher, der Mitte der 1980er Jahre den Umbau der SVP in eine rechtsbürgerliche und nationalkonservative Volkspartei einleitete. Bei den eidgenössischen Wahlen von 1999 wurde die SVP stärkste Kraft des bürgerlichen Lagers und liess dieses als gesamtes nach rechts rücken. Mit der Wahl von Blocher 2003 erlangte sie einen zweiten Sitz im Bundesrat, was die Zauberformel veränderte. Die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf 2007 anstelle Blochers hatte eine Spaltung der SVP zur Folge, aus welcher 2008 die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) hervorging.

Obwohl der Anteil der bürgerlichen Parteien in fast allen Kantonen und im Bund in den vergangenen Jahrzehnten gesunken ist, erscheint die Vorrangstellung des Bürgerblocks in der Schweiz, vor allem auf Bundesebene, Anfang des 21. Jahrhunderts ungefährdet: Die bürgerlichen Parteien unterstützen sich in kritischen Wahlen gegenseitig, verfügen bei Volksabstimmungen nach wie vor über ein überlegenes publizistisches und finanzielles Potenzial und können ihre Politik weitgehend durchsetzen.

Quellen und Literatur

  • E. Gruner, Die Parteien in der Schweiz, 1969 (21977)
  • Hb. Polit. System der Schweiz 2, hg. von U. Klöti, 1984, 135-162
  • L. Neidhart, «Funktions- und Organisationsprobleme der schweiz. Parteien», in Schweiz. Jb. für Polit. Wiss. 26, 1986, 21-46
  • A. Ladner, «Das Schweizer Parteiensystem und seine Parteien», in Hb. der Schweizer Politik, hg. von U. Klöti et al., 1999, 213-260
  • W. Linder, Schweiz. Demokratie, 1999 (22005)
  • L. Neidhart, Die polit. Schweiz, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Leonhard Neidhart: "Bürgerliche Parteien", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.04.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026984/2016-04-13/, konsultiert am 28.03.2024.