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Rütli

Das Rütli ist ein Wieslandkomplex im Wald über dem Urnersee, am Ostabhang des Seelisbergs. Gemäss der Befreiungstradition, wie sie am frühesten im «Weissen Buch von Sarnen» überliefert ist, war das Rütli der Ort der heimlichen Zusammenkünfte der Urschweizer Eidgenossen bei ihrer Verschwörung gegen die Landvögte. Aegidius Tschudi setzte Mitte 16. Jahrhundert den Rütlischwur auf Mittwoch vor Martini 1307 fest. Die Wiederentdeckung des Bundesbriefes von Anfang August 1291 und die kritische Geschichtsschreibung führten ab 1845 zu einer Neubeurteilung der Befreiungsgeschichte und zu einer lange dauernden Debatte der Verfechter des Jahres 1307 bzw. 1291 als Ausgangspunkt der Eidgenossenschaft.

Malerische Ansicht der Rütliwiese und des Vierwaldstättersees. Gouache von 1835 aus dem Atelier Bleuler in Feuerthalen nach einer Originalzeichnung von Johann Heinrich Bleuler (Schweizerische Nationalbibliothek, Sammlung Gugelmann).
Malerische Ansicht der Rütliwiese und des Vierwaldstättersees. Gouache von 1835 aus dem Atelier Bleuler in Feuerthalen nach einer Originalzeichnung von Johann Heinrich Bleuler (Schweizerische Nationalbibliothek, Sammlung Gugelmann).

Das Rütli war aber schon vor dem Ausbruch dieser Kontroversen eine vaterländische Besinnungsstätte, insbesondere der Urschweiz, die hier verschiedene Zusammenkünfte durchführte (z.B. 1674, 1713). Die Aufklärung und die liberalen Kräfte verbanden mit dem Rütli ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Ideen von Freiheit und nationaler Identität. Schon 1780 lancierte der französische Philosoph Guillaume Thomas François Raynal das Projekt eines Freiheitsdenkmals auf dem Rütli; die Verwirklichung scheiterte aber am Zögern der Urner Obrigkeit. Auch ein 1789 von Uri angeregtes Rütlidenkmal blieb unausgeführt. In der Helvetik pilgerten sowohl Konservative als auch Patrioten auf das Rütli. Das berühmteste literarische Denkmal für das Rütli dichtete 1804 Friedrich Schiller mit dem Freiheitsdrama «Wilhelm Tell» (2004 Freilichtspiel auf dem Rütli zum 200. Jahrestag der Uraufführung). 1820 schufen der Luzerner Johann Georg Krauer und der Rapperswiler Franz Joseph Greith, damals patriotisch gesinnte Studenten in Freiburg im Breisgau, Text und Melodie zum später bekannten Rütlilied «Von ferne sei herzlich gegrüsset».

Um das Rütli vor der Überbauung durch ein Hotel zu bewahren, kaufte die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) 1859 die Liegenschaft. Die Mittel flossen aus einer nationalen Sammelaktion, an der sich insbesondere die Schweizer Jugend beteiligte. 1860 schenkte die SGG das Rütli der Eidgenossenschaft als «unveräusserliches Nationaleigentum», behielt sich allerdings die Verwaltung vor und setzte hierfür eine besondere Rütlikommission ein. Diese hat den Auftrag, das Rütli als Naturdenkmal und nationale Gedenkstätte zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 1861-1862 wurde das Rütli aufgeforstet, neue Weganlagen erstellt sowie die Schiffsstation in die Schützenrüti verlegt. 1865 erfolgte die Neugestaltung des Schwurplatzes mit den drei auf die drei Urkantone bezogenen Quellen, wo nach der Tradition der Rütlischwur stattgefunden haben soll. Um der seit 1884 fahrplanmässigen Dampfschifffahrt mit wachsendem Touristenstrom zu genügen, wurde 1913 eine neue Schiffsstation gebaut. Das so erneuerte Rütli wurde zum Schauplatz einer langen Reihe nationaler Gedenkfeiern (1859, 1891, 1907, 1941, 1991). 1998 wurde eine umfassende Sanierung der Liegenschaft und der Gebäude abgeschlossen.

Seit 1860 findet jeweils am Mittwoch vor Martini das traditionsreiche Rütlischiessen und seit Ende der 1930er Jahre ein Pistolenschiessen statt. Am 25. Juli 1940 versammelte General Henri Guisan die Armeeführung auf dem Rütli zum denkwürdigen Rütli-Rapport. Die SGG führt alljährlich am 1. August eine schlichte Bundesfeier durch. Störmanöver rechtsradikaler Bewegungen führten ab 2006 zu verstärkten Polizeimassnahmen.

Das Rütlimotiv befruchtete seit dem Spätmittelalter das Kunstschaffen. Schon im 16. Jahrhundert entstanden mehrere Wandgemälde. Zu den bekanntesten neueren Werken zählen Ernst Stückelbergs Fresko «Rütlischwur» (1881) in der Tellskapelle am See und Charles Girons Gemälde «Wiege der Eidgenossenschaft» (1902) im Nationalratssaal des Bundeshauses in Bern. Im Zug der Herausbildung eines neuen Geschichtsbildes von den Anfängen und der frühen Entwicklung der Eidgenossenschaft erfolgte seit etwa 1970 eine Marginalisierung der historischen Rolle des Rütli. Die unbestrittene Wirkungsgeschichte des Rütli verleiht indes dem fast mythischen «Rütligeist» geschichtsbildende Kraft und dem Rütli selbst einen eigenständigen, wenn auch nicht unumstrittenen Stellenwert als nationale Gedenkstätte.

Quellen und Literatur

  • J. Stückelberger, «Charles Girons "Wiege der Eidgenossenschaft" im Bundeshaus in Bern», in ZAK 42, 1985, 325-330
  • Kdm UR 2, 1986, 417-426
  • J. Wiget, Rütli, 1986
  • M. Fröhlich, E. Müller, Rütli, Schillerstein, Tellskapelle, 1991
  • G. Kreis, «Der Mythos von 1291. Zur Entstehung des schweiz. Nationalfeiertages», in Die Entstehung der Schweiz, hg. von J. Wiget, 1999, 43-102
  • G. Kreis, Mythos Rütli, 2004

Zitiervorschlag

Hans Stadler: "Rütli", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.01.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008794/2012-01-06/, konsultiert am 28.03.2024.